Vergangenes Jahr ging der Titel der günstigsten Aktie der Schweiz an den Milchverarbeiter Hochdorf, der mittlerweile zerschlagen wurde. Das operative Geschäft wurde verkauft, an der Schweizer Börse verblieb - nun unter neuem Namen «HT5» - die Hülle. Ziel ist es, die Gesellschaft zu sanieren und mit einem operativ und finanziell erfolgreichen Unternehmen zusammenzuführen, um dieses dann an die Börse zu bringen.
In diesem Jahr trägt der Nahrungsmittelkonzern Orior die Krone der billigsten Schweizer Aktie. Hintergrund: Ein plötzlicher Gewinneinbruch, ein markanter Anstieg der Verschuldung und ein negatives Investorensentiment.
Wenngleich die Herausforderungen für das Unternehmen und Management enorm sind, ist die Lage besser als damals bei Hochdorf. Die Aktien des Nahrungsmittelkonzerns sind dennoch nur für Anleger mit einer sehr hohen Risikotoleranz geeignet.
Kurskorrektur und Gegenwind
Bis Mitte 2023 war von den kommenden Problemen noch keine Spur. Der Aktienkurs von Orior bewegte sich zwischen 70 und 75 Franken und lag damit knapp die Hälfte über dem Kursniveau nach dem Börsengang im April 2010. Zeitweise lag die Performance über jener des Swiss Market Index (SMI).
Kursverlauf der Orior-Aktien in Franken.
Dann ging alles ganz schnell: Der Aktienkurs sank in nur 24 Monaten unaufhaltsam um rund 84 Prozent auf gut 12,20 Franken. In diesem Jahr ist Orior mit einem Minus von 71 Prozent die schlechteste Aktie im Swiss Performance Index. Besonders aufgrund der nur halbjährlich stattfindenden Berichterstattung ist die (nun im Nachhinein korrekte) Einpreisung zukünftiger Ereignisse durch den Markt beeindruckend. Das volle Ausmass der Probleme wurde erst vor wenigen Monaten offensichtlich.
Ursachen für die Verschlechterung des zugrunde liegenden Geschäfts waren höhere Einkaufspreise beim Schweinefleisch, eine unterdurchschnittliche Performance der Geschäftseinheiten, der Verlust von Marktanteilen und der Absprung eines Grosskunden.
Volatiles Geschäft und Klumpenrisiko
Bis zum Geschäftsjahr 2023 lag Orior punkto Profitabilität noch deutlich vor dem Hauptkonkurrenten Bell. Zeitweise erwirtschaftete Orior mit 4,7 Prozent Reingewinnmarge fast doppelt so viel Gewinn pro Franken Umsatz wie die wesentlich grössere Bell (2,9 Prozent).
Doch Bell hat einen entscheidenden Trumpf in der Hand: Coop. Der grösste Fleischproduzent der Schweiz gehört zu 70 Prozent dem Detailhändler. Coop - Kunde von beiden, aber Eigentümer von Bell - hat klare Interessen an einem guten Geschäftsgang des letzteren.
Besonders im Umfeld steigender Rohwarenkosten hat Orior die schlechteren Karten. Preiserhöhungen weiterzugeben dürfte für die Firma schwieriger sein, und Orior-Produkte aus dem Sortiment zu nehmen ist für Coop mit weniger Zielkonflikten verbunden. Deshalb hat Bell zwar tiefere Margen, diese sind jedoch äusserst stabil - seit mindestens zehn Jahren bewegen sie sich zwischen 2,2 und 3,4 Prozent.
Coop macht zudem 10 Prozent des Gesamtumsatzes von Orior aus - nach Migros mit 23 Prozent der zweitgrösste Kunde. Die Duopol-Stellung von Migros und Coop, deren Grösse sowie der hohe Umsatzanteil dürften massgeblich für die unvorteilhafte Verhandlungsposition von Orior und den krassen Margenschwund verantwortlich sein. Daran kann das Management vorerst wenig ändern.
Verschuldung und Kreditlimiten
Die abrupte Verschlechterung der Profitabilität hat zu einem Einbruch im freien Cashflow und einem Anstieg der Nettoverschuldung geführt. Das Verhältnis von Nettoschulden zu EBITDA liegt nun über 5,2; gegenüber dem bereinigten EBITDA (ohne Einmaleffekte) beträgt die Kennzahl 4,6. Das ist sehr hoch.
Üblicherweise sollte dieses Verhältnis nicht dauerhaft über 5 bis 6 liegen. Diese Kennzahl ist entscheidend für Kreditverträge zwischen Unternehmen und Kreditgebern. Wird die Limite verletzt, gilt sie technisch als Zahlungsverzug («Event of Default»).
Zwar führt dies nicht automatisch zur Kreditkündigung oder Insolvenzverfahren. Vielfach treten jedoch strengere Vertragsklauseln in Kraft, die Kreditkosten steigen oder das Unternehmen verpflichtet sich Massnahmen zur Behebung der Situation. Wichtig: Das genaue Limit unterscheidet sich allerdings je nach Unternehmen.
Einschneidende Restrukturierung
Orior hat deshalb ein umfassendes Restrukturierungspaket angekündigt, um einerseits die Verschuldung zu reduzieren und andererseits Margen und Wachstum zu verbessern. Massnahmen auf der Kostenseite scheinen vorerst der einzige Weg, da Preiserhöhungen kaum umsetzbar sind.
Die verschiedenen Unternehmensbeteiligungen werden auf ihre Ertragskraft geprüft, Liegenschaften sollen verkauft werden, die Dividende wurde gestrichen. Die UBS-Analysten rechnen in diesem Jahr mit einer Reduktion der Finanzverbindlichkeiten von rund 20 Millionen Franken. Das Unternehmen selbst sprach von «mehreren 10 Millionen Franken».
Mit einer rigorosen Herangehensweise kann viel erreicht werden: Allein durch die gestrichene Dividende können rund 22 Millionen Franken zur Schuldentilgung verwendet werden. Mit Beteiligungs- und Liegenschaftsverkäufen sowie einer Reduktion des Nettoumlaufvermögen könnte die Verschuldung von derzeit 180 Millionen Franken deutlich unter die von der UBS erwarteten 160 Millionen Franken für 2025 gesenkt werden. Die Kennzahl Nettoschulden zu EBITDA läge dann wieder unter 4,5.
Unsicherheit trotz neuer Führung
Mit der Restrukturierung hat das Unternehmen auch personelle Konsequenzen gezogen. CEO, Finanzchef und Verwaltungsratspräsident sind spätestens seit der Generalversammlung aus dem Unternehmen ausgeschieden.
Für die offene CEO-Position wurde seit November 2024 keine geeignete Person gefunden. Deshalb hat Verwaltungsratsmitglied Monika Friedli-Walser als Delegierte des Verwaltungsrats die operative Führung der Gruppe vom Interims-CEO Filip De Spiegeleire übernommen. Friedli-Walser wurde zudem zur Verwaltungsratspräsidentin gewählt.
Die Machtkonzentration von Verwaltungsratspräsidentin und CEO in Personalunion könnte in der aktuellen Lage positiv wirken - vorausgesetzt, die Stelleninhaberin verfügt über die nötigen Fähigkeiten.
Doch handelt es sich um keine langfristige Lösung. Das Unternehmen hat mitgeteilt, dass Friedli-Walser sich aus dem operativen Geschäft zurückziehen wird, sobald ein neuer Chef gefunden ist. Diese Unsicherheit über die langfristige Führung der Firma dürfte laut UBS-Experten weiterhin negativ auf den Kursverlauf wirken.
Und deren Standpunkt ist nicht ganz unwichtig. UBS Fund Management hält knapp 15 Prozent der ausstehenden Aktien - laut Aktienregister der grösste wirtschaftliche Berechtigte. Ob es sich dabei um ein passives oder aktives Investment handelt, ist unklar.
Führen die UBS-Analysten Orior noch lange auf der Verkaufsliste (bisher seit März 2025), könnten nicht nur neue Käufe ausbleiben. Der Vermögensverwaltungsarm der UBS könnte durchaus auch Bestände reduzieren. Seit dem dritten Quartal 2024 ist dies laut LSGE-Daten nicht mehr geschehen. Damals fiel der Orior-Kurs um 15 Prozent.
Ein direkter Zusammenhang lässt sich nicht eindeutig belegen. Bei einem durchschnittlichen Handelsvolumen von weniger als 13’000 Aktien pro Tag, hätte die UBS jedoch mindestens zwei Wochen benötigt, um ihre gut 110’000 Aktien zu veräussern - spurlos am Kurs dürfte dies kaum vorbeigegangen sein.
Attraktiver Markt
Um die Wende zu schaffen, empfehlen Experten Orior, stärker in Innovationen sowie Marketing- und Vertriebskampagnen zu investieren. Denn grundsätzlich ist der Lebensmittelmarkt stabil und attraktiv.
So sei es etwa der Bell-Marke Hilcona gelungen, seit 2021 ein jährliches Wachstum von rund 6 Prozent zu erzielen. Das Convenience-Segment von Orior schrumpfte im selben Zeitraum dagegen um 2 Prozent pro Jahr. Dies dürfte auf geringere Innovationsraten der vergangenen Jahre zurückzuführen sein.
Laut Octavian-Analyst Nejc Lavric könnte sich das Geschäft aufgrund des robusten Lebensmittelmarktes auch von selbst wieder stabilisieren. Besonders die Akquise neuer Verträge oder ein gezielter Personalabbau sollten die Lage jedoch schneller verbessern.
Insgesamt bleiben die Experten vorsichtig: Anleger sollten vorerst auf Anzeichen einer Stabilisierung warten, denn viele der zuvor genannten Massnahmen erst seit wenigen Monaten umgesetzt werden.
Octavian empfiehlt die Orior-Aktien zum Halten, die UBS rät zum Verkauf. Das durchschnittliche Kursziel liegt bei 16,50 Franken - ein Aufwärtspotenzial von über 36 Prozent. Der KGV-Abschlag auf den historischen Schnitt beträgt derzeit 57 Prozent.