cash.ch: Der US-Technologieindex Nasdaq 100 hat seit Jahresbeginn über 40 Prozent gewonnen. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

Matthias Geissbühler: Für die starke Entwicklung des Technologiesektors gibt es drei Gründe. Erstens gehörte der Nasdaq mit einem Minus von 33 Prozent zu den grossen Verlierern im vergangenen Börsenjahr. Es fand eine klassische Bewertungskorrektur aufgrund der Zinswende statt. Seit Jahresbeginn haben sich indes die 5- und 10-jährigen Staatsanleiherenditen – trotz weiterer Leitzinserhöhungen – nicht weiter nach oben bewegt. Viele Marktteilnehmer rechnen zudem bereits wieder mit baldigen Zinssenkungen, was Wachstumswerten helfen würde. Und drittens hat der Hype um ChatGPT und das Thema KI die Technologiewerte beflügelt.   

Viele setzen auf einen anhaltenden Rückenwind durch Künstliche Intelligenz (KI). Was denken Sie?

Zweifellos bergen Anwendungen basierend auf Künstlicher Intelligenz (KI) grosses Potenzial. Anlegerinnen und Anleger sollten aber beachten, dass bei den Aktien der vermeintlichen Profiteure von KI bereits sehr viel Hoffnung eingepreist ist. Die Valoren des Chipherstellers Nvidia haben sich seit Jahresbeginn verdreifacht und die Marktkapitalisierung des Unternehmens erreicht mittlerweile fast diejenige des gesamten SMI-Index. Ohne das Potenzial von KI schmälern zu wollen: Dass hier gerade eine neue Blase entsteht, ist offensichtlich. Vergangene Zyklen haben gezeigt, dass es sich selten lohnt, in Phasen eines Hypes auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Hinzu kommt, dass insbesondere im Technologiebereich die Pioniere nur selten zu den langfristigen Gewinnern gehören. 

Der Schweizer Aktienmarkt gewinnt gemessen am Swiss Market Index (SMI) knapp 6 Prozent. Auch mit dem Swiss Performance Index (SPI) sieht die Bilanz nicht viel besser aus. Warum ist an der Schweizer Börse der Wurm drin?

Das sehe ich weniger dramatisch. Inklusive Dividenden haben Schweizer Aktien seit Jahresbeginn um fast 9 Prozent zugelegt, was über dem langfristigen Durchschnitt liegt. Und dies trotz der Tatsache, dass die beiden SMI-Schwergewichte Roche und Nestlé seit Jahresbeginn gar leicht im Minus notieren. Zudem bedeutet der starke Franken einen gewissen Gegenwind für die hiesigen Unternehmen. Währungsaspekte relativieren dafür die 'Underperformance' des Schweizer Aktienmarkts. So liegt der S&P 500 Index beispielsweise in Dollar gerechnet fast 19 Prozent im Plus. In Franken verbleibt aber 'nur' eine Wertsteigerung von rund 11 Prozent.   

Wo sehen Sie die Schweizer Börse Ende Jahr? Höher oder tiefer?

Ich rechne mit einer Seitwärtsbewegung im SMI. Bei 11'600 Punkten gibt es einen hartnäckigen charttechnischen Widerstand. Allerdings dürften wir in den kommenden Monaten eine verstärkte Sektorrotation sehen. Viele zyklische Werte nehmen eine sanfte Landung der Wirtschaft vorweg und die Wachstumswerte sind heissgelaufen. In beiden Segmenten rechnen wir mit Gewinnmitnahmen und Umschichtungen in defensive Aktien. Das ist auch der Grund, warum wir im Hinblick auf den weiteren Jahresverlauf dem Schweizer Aktienmarkt gegenüber den europäischen Börsen und den US-Aktien den Vorzug geben. 

Geldpolitik und Konjunktur werden wohl für den weiteren Verlauf am Aktienmarkt entscheidend sein. Was müssen Anleger erwarten?

Die Vorlaufindikatoren und die inverse Zinskurve deuten auf eine rückläufige Wirtschaftsentwicklung hin. Für die USA rechnen wir sowohl für das vierte Quartal 2023 als auch das erste Quartal 2024 mit einem Rückgang des BIP, was einer technischen Rezession entspricht. Auch in Europa bleiben die Rezessionsrisiken erhöht. Gleichzeitig zeigen sich auf der Inflationsseite die Kernraten hartnäckig hoch, was baldige Zinssenkungen der Notenbanken ausschliesst. Die Zinserhöhungszyklen sind aus unserer Sicht zwar mittlerweile abgeschlossen, die Leitzinsen werden aber noch für eine geraume Zeit hoch bleiben.

Was wäre das optimale Szenario?

Das klassische 'Goldilocks'-Szenario: Also eine sanfte Landung der Wirtschaft kombiniert mit einem Rückgang der Inflation und der Leitzinsen. Ein solches ist allerdings bereits grösstenteils eingepreist.

Was sind die drei grössten Markt-Gefahren, die Ihrer Meinung nach derzeit niemand auf dem Radar hat?

Bisher sind die Auswirkungen der geldpolitischen Straffung limitiert geblieben. Die Krise bei den US-Regionalbanken hat aber gezeigt, wie fragil die Situation ist. Eine 'Black Box' ist der massiv gewachsene und unregulierte Schattenbankenbereich. Diesen sollte man auf dem Radar haben. Interessant wird auch sein, wie sich der Konsum in den USA weiterentwickelt. Gemäss unseren Daten sind die Corona-Ersparnisse mittlerweile praktisch vollständig aufgebraucht und die Kreditkartenschulden steigen wieder stark an. Zudem müssen ab Oktober die Studienkredite wieder zurückbezahlt werden, was das Budget von rund 20 Millionen Amerikanerinnen und Amerikanern zusätzlich belasten wird. Sollte der Konsum wegbrechen, wird es in den USA zu einer tieferen Rezession kommen. Anleger sollten zudem einen Blick auf die Geldpolitik in Japan werfen. Wird im Land der aufgehenden Sonne die Zinskurvenkontrolle weiter aufgeweicht und doch noch an der Zinsschraube gedreht, dürften wir eine massive Auflösung von Carry Trades sehen, was den Dollar unter Druck bringen würde.  

Wir sind mitten in der Berichtssaison. Wie ordnen Sie den Zustand der Schweizer Unternehmen ein?

Die laufende Gewinnsaison bringt Licht und Schatten. Grundsätzlich sind die Schweizer Unternehmen robust aufgestellt. Allerdings geht der konjunkturelle Abschwung nicht spurlos an den Firmen vorbei. Die Auftragseingänge gehen deutlich zurück und damit leeren sich auch die Auftragsbestände, was kein guter Vorbote für die kommenden Quartale ist. Hinzu kommt, dass der starke Schweizer Franken zunehmend wieder zu einer Belastung wird. 

Gewinnwarnungen haben letzthin zugenommen...

Insbesondere bei Unternehmen aus den zyklischen Branchen Bau, Chemie und Industrie mehren sich die Gewinnwarnungen. Erste Firmen künden Sparmassnahmen und einen Stellenabbau an. Die Situation dürfte sich in den kommenden Monaten aufgrund unseres Konjunkturszenarios noch weiter eintrüben. Entsprechend sind die Gewinnerwartungen für das laufende Fiskaljahr und für 2024 aus unserer Sicht noch immer zu hoch.  

Welche Unternehmen sind hauptsächlich gefährdet?

Den Zyklikern stehen schwierige Monate bevor. Auch im Technologie-Bereich sehen wir teilweise wieder Übertreibungen. Hier ist das Chancen-Risiko-Verhältnis aus meiner Sicht unvorteilhaft.

Bieten sich so im zweiten Halbjahr für Anlegerinnen und Anleger, die momentan an der Seite verweilen, trotz ihres Marktausblicks Einstiegschancen?

Selbstverständlich. In jedem Marktumfeld gibt es Opportunitäten. Bewertungsmässig sehr attraktiv sind Pharmawerte. Die Titel von Roche und Novartis handeln derzeit unter ihrem jeweiligen langfristigen Durchschnittswert. Zudem winken Dividendenrenditen von je gut 3,5 Prozent, welche weiter steigen dürften. Auch beim Schokoladenproduzenten Barry Callebaut sehen wir nach zwei sehr schwachen Börsenjahren eine attraktive Einstiegsgelegenheit. Kaufenswert sind zudem Versicherungsaktien wie Swiss Life oder Zurich Insurance

Auf was sollten Anleger setzen? Substanzaktien (Value), Zykliker oder Wachstumswerte?

Vor dem Hintergrund unseres Konjunkturszenarios sind wir bei Zyklikern vorsichtig. Auch viele Wachstumswerte sind mittlerweile wieder teuer. Um diese Bewertungen zu rechtfertigen, müssten die Zinsen schon sehr bald wieder stark sinken. Attraktiv sind derzeit aus unserer Sicht defensive Qualitätswerte. Solche finden sich im Pharma- und Nahrungsmittelsektor sowie beim nicht-zyklischen Konsumsektor. Auch Telekomwerte und Versorger gehören dazu. 

Was sind im Hinblick Ihres Marktausblicks die Schweizer Gewinneraktien für das restliche Jahr 2023?

Die relativen Verlierer des ersten Halbjahrs dürften in der zweiten Jahreshälfte auf der Gewinnerseite stehen. Dazu gehören unter anderem die Aktien von Roche, Zurich Insurance und Nestlé. Potenzial sehen wir zudem bei Novartis, Givaudan und Swiss Life

Zahlreiche Unternehmen an der Schweizer Börse haben im bisherigen Jahresverlauf zweistellige Kursrenditen erzielt. Wo bieten sich Gewinnmitnahmen an?

In der Schweiz würde ich bei zyklischen Werten wie ABB, Geberit, Sika oder Ems-Chemie, welche sich in diesem Jahr sehr stark entwickelt haben, zu Gewinnmitnahmen raten. Auch einige Medtech-Aktien sind teuer bewertet und damit korrekturanfällig.  

Idorsia hat zuletzt stark enttäuscht. Wie ordnen Sie den Zustand dieses Unternehmens ein?

Wir empfehlen grundsätzlich, keine Einzeltitel im Biotechbereich zu kaufen. Oft haben diese Unternehmen nur wenige potenzielle Medikamente in der Pipeline und der Erfolg ist somit binär. Hinzu kommt, dass selbst im Falle einer Zulassung der kommerzielle Erfolg eines Medikamentes nicht sicher ist. Die Vermarktungs- und Vertriebskosten sind enorm. Idorsia ist ein gutes Beispiel dafür. Viele Investoren haben sich vom Erfolg von Actelion blenden lassen und auf eine Wiederholung der Erfolgsgeschichte gesetzt. Wer in den Bereich investieren will, sollte dies also zwingend über breit diversifizierte Produkte wie Fonds oder ETF tun.  

Wie beurteilen Sie Meyer Burger, nachdem dort das Management die Ziele zurückgenommen hat?

Meyer Burger ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich ein 'Megatrend' nicht zwingend in steigenden Aktienpreisen bemerkbar machen muss. Die Energiewende und der Ausbau von Solarenergie wird weitergehen. Allerdings sind die Preise für Solarmodule kontinuierlich zurückgekommen – und sie werden weiter fallen. Hinzu kommt eine übermächtige Konkurrenz aus China. Schon die deutschen Pionierunternehmen im Solarbereich sind allesamt verschwunden. Ich würde die Aktie von Meyer Burger meiden.

Die UBS konnte die Credit Suisse wohl als Schnäppchen übernehmen. Ist diese Aktie in den kommenden Jahren ein Überflieger?

Die Integration wird noch mindestens zwei bis drei Jahre dauern. Zudem ist bei diesem Zusammenschluss eins und eins nicht gleich zwei. Das Risiko ist hoch, dass die interne Unruhe und Verunsicherung das Tagesgeschäft negativ beeinträchtigen. Zudem dürften auf die neue UBS strengere Kapitalvorschriften zukommen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Anleger getrost auf Bankaktien in ihren Depots verzichten können. Seit der Jahrtausendwende hat die UBS-Aktie 40 Prozent an Wert eingebüsst. In derselben Periode hat sich der SPI-Index verdreifacht. Ich sehe keinen Grund, warum dies in der Zukunft wesentlich anders sein sollte. 

Roche oder Novartis: Welcher Pharmakonzern bietet zukünftig mehr Chancen?

Kurzfristig würde ich Novartis den Vorzug geben. Pharmaaktien werden primär durch das Umsatzwachstum getrieben und dieses sieht aktuell bei Novartis besser aus. Hinzu kommt der baldige Spin-off der Generikasparte, welche für Fantasie sorgt. Die Stunde von Roche dürfte aber auch bald wieder schlagen. Der Umsatzrückgang in der Onkologie-Sparte sowie im Diagnostikbereich dürfte Ende Jahr durch sein. Dadurch wird die Basis gelegt für eine Wachstumsbeschleunigung ab 2024. Mit einem KGV von 14 für 2023 ist der Titel sehr günstig bewertet. Insofern gehören beide Titel in ein diversifiziertes Portfolio.   

Was sind die drei wichtigsten Erkenntnisse bei der Anlagestrategie, die Sie für den langfristigen Erfolg an der Börse für unabdingbar halten?

Erfolgreich Anlegen ist eigentlich einfach. Die Basis ist eine sorgfältige Auswahl der passenden langfristigen Anlagestrategie. Hier geht es um die Themen Risikobereitschaft und Risikofähigkeit. Ist eine solche Strategie einmal festgelegt, gilt es daran festzuhalten. Insbesondere auch dann, wenn es an den Börsen zwischendurch rumpelt. Zweitens ist eine breite Diversifikation wichtig. Denn so lassen sich im Portfoliokontext die unsystematischen Risiken ausschliessen. Und zu guter Letzt – und das ist psychologisch nicht immer einfach – sollten Anleger versuchen, 'antizyklisch' vorzugehen. Nach dem Motto: 'Kaufen, wenn die Kanonen donnern und verkaufen, wenn die Violinen spielen.' Mit einem quartalsweisen oder halbjährlichen Rebalancing des Portfolios lässt sich aber auch dies relativ einfach und systematisch umsetzen.

Seit Januar 2019 ist Matthias Geissbühler als Chief Investment Officer (CIO) von Raiffeisen Schweiz für die Anlagepolitik verantwortlich. Zuvor war er in verschiedenen Positionen als Aktienanalyst, Portfolio- und Fondsmanager tätig. Er hält einen Abschluss als lic. oec. HSG sowie die Titel Chartered Financial Analyst (CFA) und Chartered Market Technician (CMT).

Matthias Geissbühler beantwortete die Fragen schriftlich.

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