"Will you shut up, man?" Vor einigen Jahren konnte man sich nicht vorstellen, solche Worte einmal in einem TV-Duell zwischen den beiden Bewerbern um das US-Präsidentschaftsamt zu hören. Doch jetzt war dieser Satz in der Aufregung um das von den meisten Kommentatoren als würdelos, ja sogar als schändlich bezeichnete Spektakel fast eine Randnotiz. Die negativen Höhepunkte waren die zahlreichen Beschimpfungen, die sich die Kontrahenten an den Kopf warfen, sowie Donalds Trumps zaghafter (Nicht-)Versuch, sich von der ultrarechten, gewaltbereiten Gruppierung Proud Boys zu distanzieren.

Das Duell hat eines gezeigt: Der Wahlkampf, der spätestens in der Nacht auf Mittwoch in die heisse Phase getreten ist, wird noch schmutziger, als ohnehin befürchtet. Für die Anleger macht dies die Lage nicht leichter – im Gegenteil. "Die Unsicherheit für die Marktteilnehmer und die Volatilität an den Märkten wird mit jedem Tag, den wir uns den US-Wahlen nähern, grösser", schreiben Analysten der UBS.

Steigende Unsicherheit an den Märkten

Die US-Wahl, die am 3. November stattfindet, könnte in den nächsten Wochen und wahrscheinlich sogar Monaten neben steigenden Corona-Fallzahlen und anhaltenden Konjunktursorgen das dritte grosse Thema sein, welches verstärkt auf die Märkte wirkt. Dabei hat sich die Volatilität an den Märkten ohenhin wieder erhöht. Der VIX-Index, der die erwartete Schwankungsbreite des US-amerikanischen Aktienindex S&P 500 ausdrückt, notiert wieder bei knapp 30 Punkten, nachdem er im August bis auf 20 Punkte zurückgegangen ist.

Hendrik Leber, CEO von Acatis Investment, bereitet vor allem die Zeit nach dem Wahltag Sorge. "Ich befürchte, in der Phase zwischen Wahl und Amtsübergabe wird es äusserst volatil an den Aktienmärkten werden", sagt Leber gegenüber cash. Donald Trump werde "kämpfen und strampeln" und eventuell sogar den Supreme Court anrufen, um sich irgendwie im Amt zu halten.

US-Präsident Trump hatte zuletzt öffentlich in Frage gestellt, eine mögliche Wahlniederlage zu akzeptieren. Im TV-Duell von Dienstagnacht bekräftige er seine Auffassung, dass diese US-Wahl wegen der durch Corona vermehrt durchgeführten Briefwahl-Abstimmungen so betrugsanfällig sei wie keine US-Wahl zuvor in der Geschichte. Sicher ist: Durch die vermehrten Briefwahl-Abstimmungen dürfte es diesmal einige Wochen dauern, bis ein Resultat feststeht.

«Wichtig ist ein klares Resultat am 3. November»

Für Anastassios Frangulidis, Chefstratege von Pictet Asset Management, ist am 3. November nicht primär entscheidend, wer der Sieger wird. "Unabhängig davon, wer die Wahl gewinnt: Wichtig ist ein klares Resultat und dass die Wahl nicht angefochten werden kann", so Frangulidis gegenüber cash. Ein klares Wahlergebnis würde sich an den Aktienmärkten sofort positiv auswirken, so der Pictet-Experte.

Allerdings glaubt Frangulidis, dass eine Hängepartie nach den Wahlen bereits zu einem gewissen Grad in den Kursen eingepreist sei – anders als etwa bei der US-Wahl 2000, als die Stimmen von Florida neu ausgezählt werden mussten. "Damals haben die Kurse in den Wochen nach der Wahl massiv korrigiert, weil niemand damit rechnete, dass am Wahltag noch kein sicherer Sieger bestimmt werden konnte. Das ist diesmal anders."

«Verliert Trump knapp, droht Chaos»

Thomas Gitzel, Chefökonom von der VP Bank, klingt da weitaus pessimistischer. "Sollte Trump nur knapp verlieren, droht Chaos", sagt Gitzel. Das Fernsehduell sei ein Vorgeschmack auf das gewesen, was uns möglicherweise nach dem 3. November erwarte. "Das sind keine guten Nachrichten für die Finanzmärkte", so Gitzel.

Welcher Präsident wäre aber nun besser für die Börse? Biden wird allgemein als weniger wirtschaftsfreundlich als Trump angesehen. So will er etwa Teile der Steuerreform von US-Präsident Trump rückgängig machen, was die Gewinne der Unternehmen belasten dürfte. Auch eine strengere Regulierung der Tech-Konzerne ist bei den Demokraten immer wieder ein Thema.

Wichtig wird nicht nur sein, wer die Wahl um das Präsidentschaftsamt gewinnt, sondern welche Partei die Mehrheit im Kongress, bestehend aus dem Repräsentantenhaus und dem Senat, erobert. Für Frangulidis gibt es eine klare Wunschkonstellation, welche den Börsen am ehesten gelegen käme: "Wenn Biden die Wahl gewinnt und die Republikaner den Kongress beherrschen, wäre das die perfekte Kombination für die Märkte."

Der Gedanke dahinter: Mit Biden wäre endlich kein Verrückter mehr im Oval Office, der heute A sagt, um morgen B zu tun. Gleichzeitig würde eine republikanische Mehrheit im Kongress den neuen Präsidenten bei Plänen für Steuererhöhungen im Zaum halten. Aber auch bei einem möglichen Trump-Sieg bei gleichzeitiger demokratischer Mehrheit im Kongress wäre die Marktreaktion laut Frangulidis wahrscheinlich gut. "Es geht darum, dass keine Partei die absolute Macht erhält."

Volatilität auch Chance für Anleger

"Entgegen der allgemeinen Auffassung sind Demokraten-Präsidentschaftsjahre besser für die Börse", sagt Leber. Er glaube, dass ein verlässlicher US-Präsident Biden für eine stabilere Börse sorgen würde. Für Frangulidis ist keiner der beiden Kandidaten der klar bessere für die Börse. "Die Steuerpläne von Biden werden sich weniger negativ auswirken, wie einige meinen. Zudem wird Biden einen diplomatischeren Ton im Handelsstreit mit China anschlagen."

Am Tag nach der US-Wahl 2000, als die Stimmen in Florida neu ausgezählt werden mussten, verlor der S&P 500 übrigens vier Prozent, erholte sich anschliessend aber wieder schnell. Auch wenn Experten von einer erhöhten Volatilität in den nächsten Wochen und Monaten ausgehen, bleibt das Gros der Experten langfristig optimistisch für die Aktienmärkte. Anleger können sich überlegen, mögliche Rücksetzer für Einstiege zu nutzen oder bestehende Positionen weiter auszubauen.

Eine mögliche Hängepartie nach dem Wahltag könnte zudem dem Goldpreis wieder Auftrieb geben. Das Edelmetall ist im Nachgang der US-Wahl 2000 wegen der Unsicherheiten um 12 Prozent in die Höhe geschossen. Experten erwarten bei Unsicherheiten durch ein wochenlanges Hin und Her nach den Wahlen eine erneute Abschwächung des Dollars - was den Goldpreis wiederum stützen könnte.