Die vom russischen Einmarsch in die Ukraine ausgelöste «Zeitenwende» bestimmt den Arbeitsalltag von Gundbert Scherf. Vor einigen Jahren musste der Mitgründer des Startups Helsing noch um jeden Investoren-Euro kämpfen. Heute stehen potenzielle Geldgeber bei dem Anbieter von Kampfdrohnen und Künstlicher Intelligenz (KI) für den militärischen Einsatz Schlange. Helsing, mit einer Bewertung von zwölf Milliarden Dollar Europas wertvollstes Verteidigungs-Startup, ist ein Beispiel für die Aufbruchstimmung, die die Rüstungsbranche erfasst hat - besonders, wenn es um Innovationen geht. Reuters sprach mit zwei Dutzend Unternehmenschefs, Politikern und Investoren über die zentrale Rolle, die Deutschland dabei spielen will.
«Europa steht an der Schwelle einer Transformation in der Verteidigungsinnovation, die dem 'Manhattan-Projekt' ähnelt», sagt Helsing-Chef Scherf, der früher Partner bei der Beratungsfirma McKinsey war. So hiess das US-Programm zur Entwicklung einer Atombombe während des Zweiten Weltkriegs. «Europa gibt in diesem Jahr erstmals seit Jahrzehnten mehr für die Beschaffung von Rüstungstechnologie aus als die USA.»
Kehrtwende Deutschlands
Gerade für Deutschland ist die Entwicklung eine echte Kehrtwende: Geprägt vom Trauma des Nationalsozialismus und einem starken Pazifismus in der Nachkriegszeit unterhielt Deutschland lange einen vergleichsweise kleinen Verteidigungssektor und verliess sich auf die Sicherheitsgarantien der USA. Zudem bevorzugte das risikoaverse deutsche Geschäftsmodell schrittweise Verbesserungen statt disruptiver Innovationen. Doch nun will Deutschland seinen regulären Verteidigungshaushalt bis 2029 auf rund 162 Milliarden Euro (175 Milliarden Dollar) pro Jahr fast verdreifachen.
Ein Grossteil des Geldes soll mit den Plänen vertrauten Personen zufolge nun in Technologien fliessen, die die Kriegsführung neu definieren. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) betrachte KI als Schlüssel für die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik. Daher wolle seine Regierung das bürokratische Beschaffungswesen gerade unter diesem Gesichtspunkt entschlacken. Unter anderem sollen hochrangigen Militärs eigene Budgets für Käufe zur Verfügung gestellt werden. Der Gesetzentwurf, der vom Kabinett am Mittwoch beschlossen wurde, sieht die Auszahlung von Vorschüssen an Startups vor.
«Drohnen und KI sind militärisch entscheidende Zukunftsfelder», betont Annette Lehnigk-Emden, die Chefin des Beschaffungsamts der Bundeswehr. «Die Veränderungen, die sie auf dem Schlachtfeld bewirken, sind ebenso revolutionär wie die Einführung des Maschinengewehrs, des Panzers oder des Flugzeugs.» Mit dem Drohnen-Hersteller Quantum Systems kommt ein weiteres zukunftsträchtiges Startup aus Deutschland. Quantum Systems produziert mittlerweile auch direkt in der Ukraine, die bei ihrer Verteidigung verstärkt auf teilweise mithilfe von KI gesteuerte Drohnen setzt. Mit diesem vergleichsweise billigen Gerät gelang ihr vor einigen Wochen eine Serie spektakulärer Schläge gegen zahlreiche russische Flughäfen.
Insekten mit Minisensoren
Potenzielle Nutzniesser der Reformen in Deutschland sind neben Helsing und Quantum eine ganze Reihe weiterer deutscher Verteidigungs-Startups. Die Bundesregierung lässt sich den Insidern zufolge mittlerweile von einigen dieser kleineren Firmen beraten - neben den etablierten Konzernen wie Rheinmetall oder Hensoldt. Diese hätten wegen ihrer vollen Auftragsbücher für konventionelle Systeme weniger Anreize, sich auf Innovationen zu konzentrieren, sagt einer der Insider. Nach den Worten von Marc Wietfeld, Chef und Gründer des Militärroboterbauers Arx, verdeutlicht ein Treffen mit Verteidigungsminister Boris Pistorius, wie tief das Umdenken in Berlin geht. «Er sagte mir: 'Geld ist keine Ausrede mehr - es ist jetzt da'. Das war ein Wendepunkt.»
Der Krieg in der Ukraine hat auch gesellschaftliche Einstellungen verändert: «Deutschland hat seit dem Einmarsch eine ganz neue Offenheit gegenüber dem Thema Sicherheit entwickelt», sagt Sven Weizenegger, des Cyber Innovation Hub der Bundeswehr. Er erhalte täglich 20 bis 30 Anfragen auf der Online-Plattform Linkedin mit Ideen für die Entwicklung von Rüstungstechnologie, verglichen mit vielleicht zwei bis drei pro Woche im Jahr 2020. Einige der Ideen muten wie Science Fiction an: Zum Beispiel die Firma Swarm Biotactics, die Insekten mit Mini-Sensoren ausrüstet, um in feindlichen Umgebungen Informationen zu sammeln. Die Tiere seien mit Gehirnsonden ausgestattet, mit deren Hilfe sie dirigiert werden, erläutert Firmenchef Stefan Wilhelm. «Sie können einzeln gesteuert werden oder autonom in Schwärmen operieren.»
Aufschwung durch Aufrüstung
Die Investitionen in neue Militärtechnik könnten der schwächelnden deutschen Konjunktur neuen Schub geben. «Eine starke Verteidigungsindustrie bedeutet eine starke Wirtschaft und Innovation im Eiltempo», betont Markus Federle, Partner bei der auf Militär spezialisierten Investmentfirma Tholus.
Diese Firmen sind zudem potenzielle Kunden für den wichtigen deutschen Mittelstand, der unter der schleppenden Nachfrage aus anderen Branchen leidet. Er erhalte täglich drei bis fünf Bewerbungen von früheren Beschäftigten aus dem Automobilsektor, sagt Stefan Thumann, der Chef des Drohnenbauers Donaustahl. «Die Startups brauchen nur die Köpfe für die Entwicklung und die Prototypen.» Der Mittelstand könne die Produktion übernehmen.
Hans Christoph Atzpodien, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV), warnt vor überzogenen Erwartungen. «Das traditionelle Beschaffungswesen, das auf etablierte Anbieter ausgerichtet ist, eignet sich nur bedingt für das hohe Tempo, das neue Technologien erfordern», sagt er.
Die Startup-Branche ist dennoch optimistisch, dass die verkrusteten Strukturen rasch aufgebrochen werden. Sven Kruck, Strategiechef von Quantum Systems fasst es so zusammen: «Es lastet jetzt viel Druck auf Deutschland, die Führungsnation der europäischen Verteidigung zu sein.»
(Reuters)