cash.ch: Frau Thoma, Sie sind VR-Präsidentin und CEO von Sulzer. Planen Sie bezüglich der Doppelfunktion eine Änderung?

Suzanne Thoma: Wie ich schon bei der Übernahme der neuen Funktion als CEO kommuniziert habe, werde ich diese länger wahrnehmen. Das heisst, so lange, als dies im Interesse des Unternehmens ist.

Der Inhalt der Strategieanpassung soll im Februar kommuniziert werden. Es kann daher tatsächlich noch länger dauern…

Ja, weil es um die Umsetzung und die Verankerung der Strategie im Unternehmen geht.

Der Auftragseingang hat sich bei Sulzer zuletzt etwas verlangsamt - plus 5,4 Prozent von Juni bis September. Über die gesamten ersten neun Monate waren es in Lokalwährungen aber 18 Prozent mehr als in der Vorjahresperiode. Inwiefern spürt Sulzer als Industriekonzern überhaupt den konjunkturellen Gegenwind?

Wir spüren den konjunkturellen Gegenwind kaum. Wir entwickeln uns so, wie wir es im Rahmen unserer Guidance geplant und kommuniziert haben.. Man muss sich jedoch bewusst sein, dass beim Auftragseingang das erste Quartal 2023 ausserordentlich gut war - eine Folge der Kumulation von Grossaufträgen. Selbst im dritten Quartal waren wir noch 5 Prozent besser als in der Vorjahresperiode. 

Sie gingen bei der Präsentation der Neun-Monats-Zahlen für das Gesamtjahr von einem organischen Umsatzwachstum von 11 bis 13 Prozent sowie einer operativen Gewinnmarge von rund 11 Prozent aus. Nochmals: Können Sie diesen Zahlensatz erfüllen?

Ja.

Wie blicken Sie auf das nächste Jahr?

Wir haben in den vergangenen Jahren gelernt, dass sich geopolitisch und finanzpolitisch vieles ändern kann. Auf dieser Grundlage sind wir vorsichtig optimistisch, vor allem wegen der Visibilität für das erste Semester. Dies hat auch damit zu tun, dass wir geografisch breit aufgestellt sind und unsere Produkte und Dienstleistungen in Bereichen zur Anwendung kommen, die weniger konjunkturabhängig sind.

Sie sprechen damit die Bereiche Infrastruktur und Grundversorgung an?

Ja.

Was sind weitere Gründe für diese positive Entwicklung bei Sulzer?

Sulzer verfügt wie erwähnt über eine sehr breite geografische Aufstellung, einschliesslich den USA, wo sich die Wirtschaft sehr gut entwickelt. Und wir haben einen sehr interessanten Mix von Technologien, die einerseits für die Infrastruktur sehr wichtig sind, andererseits beim Thema Nachhaltigkeit zum Zug kommen. In beiden Bereichen verspüren wir einen Aufwind.

Der Nachhaltigkeitstrend kommt Ihnen in Bereichen wie der Wasseraufbereitung oder der Chemie zugute. Sie sehen hier grosses Wachstumspotenzial?

Ja, das ist richtig. Aber auch die angestammte klassische Industrie investiert in Nachhaltigkeit. Die Energieindustrie will grüner werden, ihre Emissionen verringern und ihre Energieeffizienz verbessern. Und wenn man CO2 abschöpfen will, muss man dieses aus der Luft nehmen. Für diesen Vorgang verfügen wir über eine typische Sulzer-Technologie. Neben solchen neuen Technologien entwickeln wir aber auch unsere angestammten Technologien weiter und adaptieren diese auf grüne Anwendungen.

Wie wichtig und wie gross ist der Anteil «grüner Technologien» bei Sulzer?

Diese sind von grosser strategischer Bedeutung. Und die grünen Technologien kommen sowohl im angestammten Geschäft -Wasser, Öl und Gas -, wie auch in den neueren Feldern - biobasierte Kunststoffe oder Treibstoffe - zum Einsatz.

Einerseits ist Sulzer ein Industrie-, andererseits ein Technologieunternehmen. Wie stimmen Sie diese beiden Teile aufeinander ab, damit Sulzer im Markt nicht abgehängt wird?

Sulzer ist ein Industrieunternehmen mit einem sehr hohen technologischen Anteil. Wir verkaufen zwar Produkte und Dienstleistungen, aber oft auch Lizenzen dazu, da wir die Technologie separat vermarkten können.

Das Servicegeschäft ist für viele Unternehmen sehr bedeutsam. Dieses glättet die konjunkturellen Schwankungen. Wie wichtig ist das Servicegeschäft bei Sulzer?

Das Servicegeschäft ist sehr wichtig. Die Division Services ist die zweitgrösste im Unternehmen, wobei auch die Division Flow Equipment Serviceanteile hat. Das Servicegeschäft ist tatsächlich nicht sehr zyklisch, es ist nachhaltiger und konstanter. Auch im Servicegeschäft kommen grüne Technologien zunehmend zum Einsatz. Beispielsweise rüsten wir bestehende Infrastrukturen zur Energiegewinnung nach, um diese umweltfreundlicher zu machen und die Emission von unerwünschten Nebengasen zu reduzieren.

Meistens ist im Servicegeschäft die Marge auch interessant…

Die Kapitalverzinsung ist im Servicegeschäft hoch, da man wenig Kapital binden muss.

Das sehen Investoren gerne…

Absolut.

Die starke Aufwertung des Schweizer Frankens schmälerte den Auftragseingang in den ersten neun Monaten 2023 um 0,2 Milliarden Franken. Stellt die Geldpolitik der SNB für Sulzer oder die Schweizer Industrie im Allgemeinen ein Problem dar?

Wir sind von diesem starken Schweizer Franken betroffen. Sulzer hat aber keine Produktion, sondern nur Pilotanlagen in der Schweiz. Mit der geographischen Diversifikation verfügen wir über eine Art natürliches Hedging.

Und die Schweizer Industrie?

Was die Schweizer Industrie betrifft, bin ich schon in Sorge, weil die fortlaufende Verteuerung des Schweizer Franken irgendwann nicht mehr weggesteckt werden kann. Die Schweizer Industrie hat sich bisher erstaunlich gut gehalten, aber die Hürde wird immer höher. Teilweise hat man sich deshalb auch angepasst, indem man die Produktion ins Ausland verlagert hat.

Es gibt eine Ausscheidung zwischen arbeitsintensiver und technologieintensiver Prozesse…

Die Theorie dahinter ist, dass man Produktion und Technologieentwicklung trennen kann. Aber das stimmt nur bis zu einem gewissen Grad. Bei Sulzer behalten wir die absolut innovativste Technologieentwicklung, wo es auch um geistiges Eigentum geht, in der Schweiz.

Aber Technologie sollte auch mit der Produktion entwickelt werden?

Es ist kein Wettbewerbsvorteil, wenn man es trennt. Sulzer hat ein grosses Entwicklungszentrum in Indien, wo man ohne grosse Schwierigkeiten gute Ingenieure und Informatiker findet. Das konzeptionelle Ingenieurwesen wird aber noch in der Schweiz gemacht. Die Digitalisierung hilft natürlich beim Austausch rund um den Globus.

'Reshoring' wird auch wegen staatlicher Programme zum Schutz nationaler Interessen mehr zum Thema. Auch bei Sulzer?

Wir sind schon sehr regional aufgestellt. Wir schauen unsere Wertschöpfungsketten an und machen diese resilienter. Dies ist uns wichtig. Auch Europa werden wir dahingehend betrachten und stärken, nicht aber die Schweiz, aus Kostengründen und wegen des Fachkräftemangels.

Keine gute News für die Schweiz?

Ich hoffe immer noch, dass wir nicht zu weiteren Massnahmen getrieben werden. Denn die Schweiz ist eine absolute Globalisierungsgewinnerin. Wenn wir uns deglobalisieren, werden wir alle einen grossen Preis bezahlen. Denn die Produkte und Dienstleistungen werden dadurch ganz einfach viel teurer werden. Wir klagen ja schon jetzt über eine schwindende Kaufkraft.

Aber Sulzer profitiert auch von staatlichen Infrastrukturprogrammen?

Ja, es gibt bekanntlich grosse Infrastrukturprogramme in den USA, von denen Sulzer profitiert. Solange wir genügend Wertschöpfung in den USA haben, spielt es keine Rolle, ob Sulzer ein Schweizer Unternehmen ist. Gerade die grossen Projekte betreffend die CO2-Abscheidung sind eine unternehmerische Chance.

Im Rahmen der aktuellen Strategie hat sich Sulzer zu einem globalen Anbieter in der Fluidtechnik entwickelt, der hauptsächlich in den Märkten Energie/Öl sowie Gas, Wasser/Abwasser und Recycling tätig ist. Wo sehen Sie das grösste Wachstumspotenzial?

Die Grünen Technologien, die nicht einem Teilbereich zugeordnet werden können, sind bei uns bestimmend.

Und geografisch?

Nordamerika und Südamerika haben grosses Wachstumspotenzial. Asien ist nicht so schlecht unterwegs. Am ehesten sehen wir eine verhaltene Entwicklung in Europa.
Hoffen wir, dass die Probleme in Europa konjunkturell und nicht strukturell sind.

Analysten attestieren Sulzer eine solide Bilanz, die finanziellen Spielraum für weitere Akquisitionen bietet. Was sind Ihre Pläne?

Sulzer hat grosses Wachstumspotenzial im organischen Bereich und kann in Bezug auf die Effizienz besser werden. Ich sehe keine grossen Akquisition aus heutiger Sicht, gewisse Ergänzungen des Portfolios, wenn sie zur Strategie passen, hingegen schon. 

Wie wollen Sie die Marge weiter steigern? Sind Programme angedacht?

Nicht Programme, sondern eine Philosophie hin zu Exzellenz als Methode, um ein Unternehmen zu führen. Das betrifft auch die kommerzielle Exzellenz, um die Marge auszuweiten. 

Vor Covid war Lean im Einkauf oder der Produktion ein grosses Thema. Also wenig Lager, viele Abrufe, kleine Batches. Kommt man wieder dorthin?

Es ist eine Abwägung zwischen Kosteneffizienz, Kapitaleffizienz und Resilienz. Sulzer wird hier versuchen, ein Optimum zu finden.

Der russische Sulzer-Grossaktionär Viktor Vekselberg ist mit Sanktionen durch die USA belegt. Inwiefern bedroht dies das operative Geschäft von Sulzer?

Sie sehen ja an unserem Auftragseingang und an unserer Umsatzentwicklung, dass es uns sehr gut geht und unsere Kunden keine Probleme mit diesem Grossinvestor haben. Kurz nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs gab es zwar emotionale Reaktionen, aber wir konnten alles bereinigen, indem wir die wahren Verhältnisse darlegen konnten.

Was sind die wahren Verhältnisse?

Wir haben Viktor Vekselberg als Ankeraktionär. Das ist eine Tatsache. Dies gibt dem Unternehmen aber auch Stabilität und Berechenbarkeit, weil wir kaum in eine potenzielle Übernahmesituation geraten können.

Der viel erwähnte Vekselberg-Malus hat sich an der Börse auch verflüchtigt, könnte man meinen…

Gut erwähnen Sie es. Sie sehen ja auch, dass der Kapitalmarkt uns Vertrauen gibt.

Die Dividendenrendite von Sulzer ist mit 4,2 Prozent ansprechend. Wie wichtig ist Ihnen die Dividendenpolitik?

Wir wollen bezüglich der Ausschüttungspolitik vorhersehbar und zuverlässig sein. Wir möchten ein attraktives Dividendenpapier sein.

Peilen Sie einen bestimmten Prozentsatz an, den Sie vom Gewinn ausschütten wollen?

Nein, dies haben wir zurzeit noch nicht definiert.

Seit dem 1. November 2022 ist Dr. Suzanne Thoma die Executive Chairwoman der Sulzer AG. Von Januar 2013 bis Mitte 2022 war sie CEO der BKW Gruppe. Nach ihrem Studium und Doktorat an der ETH Zürich arbeitete sie 12 Jahre bei der Ciba Speciality Chemicals, heute BASF, später während 5 Jahren als CEO von Rolic Technologies (heute BASF). Suzanne Thoma ist Vizepräsidentin des «Thinktanks» Avenir Suisse und wurde 2021 zur Ehrenrätin der ETH Zürich ernannt.

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