cash.ch: Frau Laud, der S&P 500 hat dieses Jahr bereits Allzeithoch um Allzeithoch erklommen. Wie ist die Stimmung an den Märkten?

Sonja Laud: Es gibt wenige, die noch dramatisch vom Konsens abweichen. Im Englischen nennen wir diesen Konsensus die 'Narrow Path Thesis'. Der Erwartungshaltung liegt ein 'Soft Landing' in den USA zugrunde. Letztes Jahr wurde noch prognostiziert, das Wirtschaftswachstum wird sich ein halbes Prozent absenken. Jetzt wird mit einem Tiefstand bei 1 Prozent und einem darauf folgenden Hochschnellen auf 2,5 Prozent gerechnet. Diese Erwartungshaltung verträgt keine Schwierigkeiten. 

Was ist notwendig, damit sich dieses Wunschszenario erfüllt?

Die Inflation muss sich weiter abmildern. Die Fed kann dann entsprechend auf Basis der rückläufigen Inflation die Zinsen senken. In der Erwartungshaltung sind im Moment noch drei Zinssenkungen in diesem Jahr mit Beginn Juni enthalten. Das bedingt aber natürlich auch kein Störfeuer von der Politik, kein Störfeuer von geopolitischen Ereignissen: Dieses Szenario basiert darauf, dass fiskalpolitisch der Konsument und auch Investitionsausgaben von Unternehmen weiterhin zum Wachstum beitragen.

Die Situation in den USA ist eine ganz andere als in Europa…

Auch für Europa wird Ende des Jahres wieder mit Trendwachstum gerechnet. Allerdings sind vier Zinssenkungen von der EZB notwendig. 

In Europa ist gesamtwirtschaftliche Leistung nicht ganz so positiv und nicht so dynamisch wie in den USA. Wo liegen die Gründe für diese Diskrepanz?

In den USA war 2023 die Fiskalpolitik ein ganz grosser Treiber vom wirtschaftlichen Wachstum. Aber auch die Arbeitsmarktdynamik hat uns positiv überrascht. Wir haben in den USA gesehen, dass Immigration einen deutlich grösseren positiven Beitrag geleistet hat als in der Vergangenheit. 

Wir befinden uns in einem Superwahljahr, mit den US-Präsidentschaftswahlen im Herbst als Höhepunkt. Was sind die Konsequenzen für die Märkte? 

Das ist eine ganz wichtige Frage. Deswegen betone ich so stark, dass der Markt ein sehr positives Narrativ eingepreist hat. Die Opportunitäten in den Märkten sind sehr, sehr unterschiedlich. Es existiert eine Asymmetrie zwischen Risiko und Rendite. 

Wo sind denn die Probleme? 

Natürlich erleben Unternehmen einen Gewinnschub mit der Implantation bei der Künstlichen Intelligenz. Aber was passiert, wenn wir tatsächlich jetzt politisch einen deutlich grösseren Rechtsruck sehen? Was passiert, wenn Donald Trump plötzlich sagt, es gibt keine Unterstützung mehr für die Ukraine? 

Die politischen Risiken für die Märkte sind wegen des Erstarkens des Rechtspopulismus dieses Jahr deutlich erhöht…

Ja, wir haben nicht nur die USA, wir haben auch Wahlen in Europa, in England oder in Indien. Die ganz grossen Themen, die natürlich ein Stück weit zu diesem Rechtsruck geführt haben, sind Immigration und die fehlende Integration. Wir wissen, dass sich das Ungleichgewicht innerhalb der Länder weiter ausweitet und damit natürlich entsprechend die Thematik noch viel bedeutender ist. 

Biden und Trump stehen für expansive Fiskalprogramme. Was bedeutet dies?

Es werden daher nicht sachpolitische, sondern extreme Themen das Wahljahr dominieren. Aber das kennen wir ja schon. Fiskalpolitisch haben wir natürlich eine extreme Ausweitung der Defizite gesehen. Es wird interessant, ob dieses Budgetdefizit überhaupt im Wahlkampf aufgegriffen wird.

Wohl eher nicht…

Aber irgendwann wird es der Markt tun. 

Ein anderes Signal des Marktes, die invertierte Zinskurve, wird gerade ad absurdum geführt…

Wenn der Konsens richtig liegt, dann ist die Yield Curve falsch. Und das ist ganz spannend. Das kurze Ende richtet sich nach der Fed. Das lange Ende geht hingegen immer noch davon aus, dass wir ein Stück weit zu niedrigeren Zinsen zurückgehen. Wenn der Markt endlich einsieht, dass der neutrale Zinssatz höher ist, dann wird das lange Ende korrigieren. 

Es ist die längste Phase, in der die Yield Curve je invertiert war. Können wir das Dogma über den Haufen werfen?

Im Moment ist alles auf ein Goldilocks-Szenario ausgerichtet. Aber wir sind ja nicht in einem stabilen globalen Umfeld. Das heisst, die Möglichkeit eines externen Schocks ist höher, deutlich höher als in der Vergangenheit. Und damit ist die Möglichkeit hoch, dieses Goldilocks-Szenario zu stören. 

Und wie positionieren Sie sich?

Das bedeutet, dass Diversifizierung wieder eine grössere Bedeutung erhält. 20 Jahre lang war Diversifizierung gar nicht so wichtig, weil alle Asset-Klassen profitiert haben. Und jetzt? Geopolitische Risiken kann man nicht absichern. Man kann nur mit Diversifizierung versuchen, eine Abfederung zu erzielen. 

Welches Investment eignet sich?

Historisch betrachtet waren Staatsanleihen in den meisten Schockszenarien die beste Absicherung. 

Schocks? Sie sprechen hauptsächlich von geopolitischen Risiken, dass Konflikte aufbrechen, die man jetzt noch nicht auf dem Radar hat? Oder dass die Notenbanken nicht wie zuletzt erwartet im Juni mit Zinssenkungen beginnen?

Wir sind im dritten Jahr des Konflikts in der Ukraine. Wir sehen bislang keine wirkliche Annäherung im Mittleren Osten. Der Markt hat das ignoriert. Wir müssen davon ausgehen, dass auch die bestehenden Konflikte, möglicherweise eine neue Dimension bekommen. 

Wir reden ja hier auch über Pfadabhängigkeiten, je nachdem wie jetzt die politische Entwicklung sich verhält. Es eröffnen sich ganz neue Pfade und dann weiss man nicht mehr, wo man schlussendlich landet…

Ja, das ist der Hintergrund, in dem wir uns die nächsten zehn, 20 Jahre mit der Abkehr von der «Pax Americana» bewegen werden. Die USA hat in der Vergangenheit ein akzeptiertes Modell für die Welt aufrechterhalten, was all die wunderbaren Dinge wie Just in Time, globale Lieferketten oder die Ausbreitung der Informationsrevolution ermöglicht hat. All das war möglich, weil wir eine gesellschaftliche Ordnung hatten in der Welt, die stabil war. In einem Umfeld der Unsicherheit geht es hingegen immer darum, den zweiten Schritt vorauszudenken. Und in einem Superwahljahr müssen wir davon ausgehen, dass wir auch Überraschungen bekommen könnten, was die politischen Akteure angeht.

Das klingt alles sehr pessimistisch?

Natürlich sollte man nicht alles in Cash halten, auch wenn man rund 5 Prozent Zinsen mit einem Money Market Fonds erhält. Man will natürlich auch nicht die aktuelle Marktentwicklung verpassen. Klar sind im Bereich der Technologieaktien Bewertungen erreicht worden, die man als teuer bezeichnen kann. Was mich diesbezüglich eigentlich relativ entspannt stimmt, ist die Tatsache, dass das Gewinnwachstum mithält. 

Technologie findet in den USA statt. Wo bleibt da Europa?

In Europa befinden sich viele führende Unternehmen im Healthcare-Sektor. Beispielsweise die Behandlung von Übergewicht ist eine ganz spannende Thematik, da sie eine der grössten Belastungen für das Gesundheitssystem darstellt. Wenn wir es schaffen, diese Situation zu verbessern, hat das möglicherweise Auswirkungen auf Branchen wie Fast Food, Healthcare und Transport. Die USA haben die Technologie, wir machen Pharma. 

Es wird kräftig investiert, auch in Bitcoin und Gold. Bei beiden sehen wir jüngst neue Höchststände. Wie erklären Sie sich das? 

Gold sagt uns eigentlich, dass wir ein bisschen zu optimistisch bezüglich der Inflation sind. Wie die letzten Datenpunkte aus den USA gezeigt haben, geht die Inflation nicht geradlinig nach unten. Und es sind die Kerndienstleistungen, die sich dann erst strukturell bei der Inflation bemerkbar machen. Das ist das, was natürlich auch am längsten zur Normalisierung braucht. Es war deswegen wirklich erstaunlich, wie extrem der Markt sich gleich zum Jahresende kurzfristig auf diese Idee des geradlinigen Rückgangs der Inflation eingeschossen hat und mit sechs Zinssenkungen rechnete.

Sie haben mit ihren Stationen bei Fidelity und Schroders eine grosse Erfahrung. Auf was sollen Anleger beim Investieren generell achten?

Man muss verstehen, wie sich die eigene Lebenssituation auf das Anlageverhalten auswirken sollte. Damit wird so ein Stück weit der Risikoappetit bestimmt. Wann brauche ich das Geld? Das ist eigentlich fast die wichtigste Frage. Weil der Zeithorizont gibt einem die Möglichkeit, die eigene Risikobereitschaft und eigene Risikokapazität zu identifizieren. Wenn man das Geld in zehn Jahren nicht braucht, dann kann man auch mit Sicherheit einen höheren Aktienanteil verdauen. Bei einem grösseren Rücksetzer ist dann noch genügend Zeit, sich umzupositionieren. 

Sonja Laud ist Chief Investment Officer (CIO) bei Legal & General Investment Management (LGIM). Sie leitet das Investmentteam des Unternehmens, das sowohl den Handel als auch die Bereiche Anlagelösungen, aktiv gemanagtes Fixed Income, Index, aktiv gemanagte Aktien-, Anleihen- sowie Multi-Asset-Portfolios umfasst. Zu ihrem Aufgabenbereich zählen alle Aspekte des Investierens von der Research-Analyse bis zur Portfoliokonstruktion; Schwerpunkt ist dabei die Leitung der ESG-Strategie von LGIM. Sonja Laud kam im Januar 2019 als Deputy CIO zu LGIM und wurde im Juni 2019 zur CIO ernannt. Zuvor war Sonja als Head of Equity bei Fidelity International für die Portfoliomanager der Bereiche Global, Equity Income und UK sowie für das Investment Director Team verantwortlich. Sie kam von Barings, wo sie globale Multi-Asset-Portfolios auflegte und verwaltete und ein stimmberechtigtes Mitglied der Asset-Allocation-Gruppe war. Davor arbeitete sie für Schroders, wo sie acht Jahre lang erfolgreich mehrere globale, europäische und britische Aktienfonds mit Schwerpunkt auf dividendenstarken Aktien verwaltete. Sonja Laud begann ihre Karriere bei der DWS in Frankfurt, wo sie als globale Aktienportfoliomanagerin ausgezeichnet wurde. Sonja Laud hat ein Global Executive MBA Programm bei TRIUM (LSE, NYUStern, HEC) absolviert und hat einen MSc, EMIM von der ESCP Europe. Sie ist Inhaberin des CFA Charter. Sie kommentiert das Geschehen an den Kapitalmärkten regelmässig in den Medien, unter anderem bei BBC, Sky News, Bloomberg und CNBC.

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