Als Chemnitz im Mai 2022 den Zuschlag für das nationale Wasserstoff-Kompetenzzentrum Hydrogen and Mobility Innovation Center (HIC) erhielt, war die Freude gross. Dies bedeutet nicht nur Investitionen, sondern auch nationale Sichtbarkeit im Zusammenhang mit einer Zukunftstechnologie für die drittgrösste sächsische Stadt. Allerdings mussten die Verantwortlichen im Juli diesen Jahres feststellen, dass es einen Schönheitsfehler gibt: In der ersten von den Fernleitungsnetzbetreibern vorgelegten Planung für das künftige deutsche Wasserstoff-Kernnetz mit immerhin 11.200 Kilometer Leitungen ist eines nicht vorgesehen - ein Wasserstoff-Anschluss für Chemnitz.

Was wirkt wie ein Schildbürgerstreich der Energiewende ist in Wahrheit typisch für das Ringen, das sich derzeit hinter den Kulissen zwischen Bund, Ländern, Gemeinden und Netzbetreibern abspielt. Wie bei ICE-Anschlüssen im Schienenverkehr oder Autobahn-Auffahrten kämpft jeder für einen eigenen Anschluss an das Wasserstoff-Kernnetz. «Die Grundüberlegung ist: Wer nicht angeschlossen ist, hat keine Zukunft», sagt ein Firmenvertreter im Hintergrund. Unternehmen, die sich auf Wasserstoff umstellen wollten, brauchten wegen der hohen Kosten und den Verhandlungen mit Banken Sicherheit, wann Wasserstoff zur Verfügung steht.

Das Bundeswirtschaftsministerium will zusammen mit den zwölf Fernnetzbetreibern - dazu gehören etwa Open Grid Europe, Gasunie, Thyssengas oder Gascade - zunächst die Nutzer anschliessen, deren Prozesse nur mit Wasserstoff dekarbonisiert werden können - etwa Stahlwerke wie von Salzgitter oder Thyssenkrupp. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) weist darauf hin, dass es eine Reihe von Industriekunden gibt, die wegen Höchsttemperaturanwendungen nicht auf Strom oder Fernwärme umsteigen könnten, sondern Wasserstoff als Gas-Ersatz brauchten. Dazu gehörten etwa Reifenhersteller, die Pharma- und Nahrungsmittelindustrie oder Düngemittelhersteller.

Die Vorsitzende der BDEW-Hauptgeschäftsführung, Kerstin Andreae, pocht auf sofortige Anschlussplanungen der Verteilnetze, um Wasserstoff in der Fläche zu erschliessen und Kunden anzubinden. «Denn erst die Verteilnetze schaffen die Verbindung vom Transportnetz zu den allermeisten Kunden», mahnt sie. Nur so könne man die Versorgung jener Kunden sicherstellen, die nicht in unmittelbarer Nähe des Kernnetzes angesiedelt seien. «Die Integration in das Wasserstoff-Kernnetz ist von grösster Bedeutung für eine nachhaltige und zuverlässige Energieversorgung der Region», betont auch Roland Werner, Vorsitzender der Geschäftsführung des Energieversorgers eins in Chemnitz - und beklagt den bisher nicht geplanten Anschluss. Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider, und der örtliche SPD-Bundestagsabgeordnete Detlev Müller versicherten bei einem Besuch im August, sich für eine Korrektur einzusetzen.

Zielkonflikt beim Aufbau des Netzes

Tatsächlich wollen die Netzbetreiber, die unter dem Namen Fernleitungsnetzbetreiber Gas (FNB) als Gruppe auftreten, der Bundesnetzagentur voraussichtlich im Spätherbst, aber spätestens bis Jahresende überarbeitete Planungen vorlegen - «sofern bis dahin die entsprechenden gesetzlichen Regelungen und ein tragfähiges Finanzierungsmodell verabschiedet wurden», wie die Firmen betonen. Im Hintergrund wird deshalb weiter gerungen. Das Bundeswirtschaftsministerium versucht, die Nervosität der Regionen und Städte zu dämpfen. Das Kernnetz sei ja nur «der Startschuss», ab 2025 würde ein überregionales, «flächenversorgendes» Wasserstoffnetz aufgebaut.

Wirklich für Ruhe sorgt dies aber nicht. Der weltgrösste Um- und Aufbau eines Wasserstoffnetzes, das die Versorgung mit Erdgas ersetzen soll, ist ein gigantisches Vorhaben, bei dem Tausende Kilometer bestehender Erdgasleitungen umgewidmet und einige neue Pipelines gebaut werden müssen. Und es gibt beim Umstieg Zielkonflikte: Firmen wollen für ihre Investitionen Klarheit, was 2030 Sache ist. Das Kernnetz wiederum darf angesichts der immensen Kosten nicht zu gross sein, weil derzeit nicht einmal klar ist, woher die enormen Mengen an Wasserstoff eigentlich kommen sollen. Und der Osten fürchtet wieder einmal, abgehängt zu werden. «Für die nötige Planungssicherheit ist es jetzt wichtig, dass möglichst schnell Transparenz und Verbindlichkeit hinsichtlich der konkreten Trassenverläufe, Ausspeisepunkte und Leitungskapazitäten des zukünftigen Wasserstoff-Kernnetzes hergestellt werden», betonte Thüringens Wirtschaftsstaatssekretär Carsten Feller.

Die regionale Betroffenheit ist allerdings unterschiedlich, das zeigt ein Blick nach Niedersachsen und seiner besonderen geografischen Lage - mit Küsten, wo der Wasserstoff anlanden wird. «Klar muss sein, dass wir nicht nur Durchlaufland sind, sondern von diesem Netz eben auch überdurchschnittlich profitieren müssen. Was beim Stromnetz gilt, gilt für ein neues Wasserstoffnetz ganz genauso», mahnt Wirtschaftsminister Olaf Lies im Gespräch mit Reuters. Illusionen über das erwartete Ringen um Anschlüsse macht er sich nicht: «Das Kernnetz kann nur der erste Schritt sein und den Anfang des Wasserstoff-Netzausbaus darstellen. Sobald wir Ende des Jahres mehr Klarheit über den Verlauf haben, brauchen wir dringend die Diskussion darüber, wie wir die Regionen jenseits des Kernnetzes zügig anschliessen», sagt Lies.

Diese Geduld hat Sachsen nicht: «Wir fordern entsprechende Nachbesserungen ein», drängt Wirtschaftsminister Martin Dulig schon bei den bisherigen Kernnetz-Planungen. Dies gelte gerade für Chemnitz als Standort des künftigen Nationalen Innovations- und Technologiezentrums Wasserstoff, aber auch einer grossen Kraft-Wärme-Koppelung-Anlage. Ebenso müsse der Industriebogen Meissen, die Chip-Industrie in Dresden und Freiberg sowie die Kraftwerksstandorte in der Lausitz angeschlossen sein.

(Reuters)