Die Geschichte von Siemens ist eine Geschichte der Elektrizität. Nachdem Werner von Siemens 1847 eine Werkstatt in Berlin eröffnet hatte, erhielt er dank seines verbesserten Designs für den elektrischen Telegrafen den Auftrag zum Bau des ersten europäischen Langstreckenkabels. In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich Siemens zu einem Industriegiganten, dessen Produkte von Glühbirnen bis zu riesigen Kraftwerksturbinen reichten.

Das Unternehmen hat sich in seiner 176-jährigen Geschichte viele Male neu erfunden. In den letzten Jahrzehnten hat sich der Konzern in mehrere börsenotierte Sparten aufgespalten, die zum Beispiel Chips, Gesundheitstechnik — und Windkraftanlagen herstellen. Diese Sparte war eine Antwort von Siemens auf die Energiewende — und wie für andere Teile der deutschen Industrie verläuft diese Umstellung alles andere als reibungslos. Im Jahr 2017 kaufte Siemens, damals schon ein grosser Hersteller von Offshore-Windturbinen, den spanischen Konkurrenten Gamesa und wurde so zum weltweit grössten Windanlagenbauer. Der damalige Vorstandsvorsitzende Joe Kaeser pries die «klare und überzeugende industrielle Logik» der Übernahme. 

Sechs Jahre später ist aus der vermeintlich sicheren Wette auf die steigende Nachfrage nach emissionsfreiem Strom ein Alptraum geworden. Ein Defekt an Tausenden von Windturbinen verursacht bei Siemens Energy, die 2020 aus dem Mutterkonzern ausgegliedert wurde, Reparaturkosten in Höhe von mindestens 1,6 Milliarden Euro und einen Nettoverlust von 4,5 Milliarden Euro im gerade abgelaufenen Geschäftsjahr. 

Die Folgen sind gravierend. Der Siemens-Konzern — immer noch Hauptaktionär der Siemens Energy — kündigte seine finanzielle Unterstützung auf und zwang den Hersteller, sich hilfesuchend nach Berlin zu wenden. Garantien in Höhe von 16 Milliarden Euro von der Bundesregierung sollen das — an sich gut laufende — Geschäft mit Gasturbinen und Netztechnik absichern, während Siemens Energy sein Haus in Ordnung bringt.

Investoren schockiert

Die Investoren reagierten schockiert und warfen die Aktien der Siemens Energy in Scharen auf den Markt. Zum zweiten Mal in diesem Jahr verlor das Unternehmen an einem einzigen Tag mehr als ein Drittel seines Börsenwerts. Das Desaster mit den Windturbinen überschattet die anderen, profitablen Geschäftsbereiche von Siemens Energy, dessen Auftragsbücher mit 110 Milliarden Euro prall gefüllt sind. 

"Siemens Gamesa ist ein tragischer Fall, aber nicht symbolisch für die gesamte Windindustrie", sagte Claudia Kemfert, Energieexpertin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin.

Dass Siemens Energy um Bürgschaften bittet, deutet darauf hin, dass die Banken zögerlicher geworden sind, mit dem Konzern zusammenzuarbeiten, und dass die Kosten für seine Kreditlinien steigen, so die Citigroup in einer Analyse. Wirtschaftsminister Robert Habeck sagte, die Gespräche mit dem Unternehmen seien "gut und konstruktiv".

Anders als beim mehr als doppelt so grossen Rettungspaket der Bundesregierung für den Gasversorger Uniper, der wegen ausbleibender russischer Gaslieferungen vergangenes Jahr in Schieflage geriet, geht es bei der Siemens Energy freilich um Bürgschaften, die womöglich nie gezogen werden müssen, und nicht um wirkliches, bares Steuergeld (Uniper bereitet derzeit die Rückzahlung vor).

Siemens Energy mit Schwierigkeiten nicht alleine

Siemens Energy ist mit seinen Schwierigkeiten bei der Umstellung auf die Energiewende keineswegs alleine.  Die Wolfsburger Autobauer von Volkswagen, die noch vor kurzem vollmundig die Führungsrolle bei der Einführung von Elektroautos beanspruchten, mussten ihre Ambitionen nach mässigem Erfolg bei den Kunden zurückschrauben. Nach Jahrzehnten als Marktführer auf dem Mega-Automarkt China verlor der Konzern den Spitzenplatz in der Volksrepublik jüngst an das Stromer- Eigengewächs BYD.

Die Chemieindustrie, angeführt von BASF, scheut neue Investitionen im eigenen Land, nachdem Russland den Hahn für billiges Pipelinegas zugedreht hat. Und die Umstellung auf erneuerbare Energien verläuft bestenfalls holprig und bleibt weit hinter dem Tempo zurück, das notwendig ist, um das Regierungsziel von 80 Prozent sauberer Stromerzeugung bis 2030 zu erreichen.

Für Siemens Energy haben sich die Schwierigkeiten seit der Übernahme von Gamesa, die von Anfang an nicht reibungslos verlief, immer weiter vergrössert. Siemens war zwar seit 2004 in der Offshore-Windenergie tätig, hatte aber wenig Erfahrung mit Onshore-Turbinen. Die Unternehmenskulturen kollidierten. Zudem geriet die Windindustrie in die Krise, es tobt ein Verdrängungswettbewerb mit Konkurrenten wie der dänischen Vestas Wind Systems.

Nicht zuletzt um der Konkurrenz zu widerstehen, brachte Siemens Energy überhastet eine neue Onshore-Windturbine auf den Markt, die 5.X. Dies erwies sich als fatal. Wichtige Komponenten des Systems zeigen ein "abnormales Vibrationsverhalten" und können so andere Teile beschädigen und die Anlage immer wieder zu Ausfällen bringen. Trotz jahrelanger Arbeit konnte die Ursache für die Probleme noch immer nicht beseitigt werden. Die Krise der Branche, die mit unrentablen Verträgen und der Konkurrenz durch chinesische Billigprodukte zu kämpfen hat, macht das Ganze nicht einfacher.

Erneute Enttäuschungen wahrscheinlich

Währenddessen läuft der Bau neuer Windparks nicht nur in Deutschland schleppend, da sich zunehmend lokaler Widerstand regt und bürokratischer Aufwand im Weg steht. Siemens Energy deutete am Donnerstag an, dass die Ergebnisse des gerade begonnenen neuen Geschäftsjahres erneut enttäuschen könnten. Die endgültigen Ergebnisse einer Überprüfung des Windgeschäfts stehen noch aus. Wie auch immer der Weg in die Zukunft aussehen wird, er wird kostspielig sein, da sowohl Werksschliessungen als auch neue Turbinendesigns in Betracht gezogen werden, sagten Personen, die mit den Plänen vertraut sind.

"Selbst wenn (Siemens Energy) kein kurzfristiges Liquiditätsproblem hat, ist der Kommentar zu den Massnahmen zur Stärkung der Bilanz sehr weit gefasst", so Vivek Midha, Analyst bei der Citigroup. "Die Sorgen der Anleger hinsichtlich einer Kapitalerhöhung werden sich wahrscheinlich verstärken."

(Bloomberg)