cash.ch: Sie gehören zu einem Team, das mit dem ‹Echiquier World Equity Growth› einen Wachstums-Aktien-Fonds leitet. Wachstumstitel ganz generell sind wegen der Zinserhöhungen 2022 stark unter Druck gekommen. Wie oft haben Sie sich dieses Jahr über die Fed und die steigenden Zinsen geärgert? 

Nina Lagron: Wir haben uns gar nicht über die Fed aufgeregt. Der Fonds ist schon ab dem Sommer des vergangenen Jahres Schritt für Schritt auf eine steigende und anhaltende Inflation ausgerichtet worden. So wurden Ende 2021 alle zyklischen Titel aus dem Fonds herausgenommen. 'Inflations-Titel' wie beispielsweise die peruanische Bank Credicorp wurden verstärkt. Wir haben uns also ganz und gar nicht über die Fed und ihre Zinserhöhungen aufgeregt. Aber über etwas anderes schon eher. 

Was meinen Sie? 

Der Markt hat eindeutig Schwierigkeiten, Informationen zu verstehen, die ihm zugespielt werden. Man versteht nicht, dass die Fed dieses Mal nicht auf den Markt reagieren wird. Es wird kein Stimulus-Wunder geben. Doch der Markt nimmt immer wieder einen Zins-Peak ins Visier. Doch dafür gibt es fundamental, von der Datenlage her, keinen Anlass. 

Wie sollen die Investoren dann mit den steigenden Zinsen umgehen? 

Wir müssen überlegen, wo die Zinsen im Schnitt der nächsten zwölf Monate sein werden, und nicht immer auf die möglichen Peaks schauen. Ich bevorzuge es, Bewertungen mit Hilfe eines Discounted-Cashflow-Modells (DCF) zu ermitteln. Damit kann ich herausfinden, was für Hypothesen der Markt gerade einpreist. Bei DCF kann man ganz einfach die Zinssätze einfügen.

Arrangiert sich der Markt nach bald einem Jahr Verunsicherung mit den neuen Verhältnissen, zu denen auch eine wohl für längere Zeit erhöhte Inflation gehört, jetzt langsam? 

Eindeutig. Geopolitisch müssen wir jetzt feststellen, dass wir wirtschaftlich in einem dritten Weltkrieg sind. Wir sehen, was zwischen den USA und China passiert. Es kommt immer wieder zu Provokationen: Vor allem in der Chipindustrie sehen wir schon viele Einschränkungen. Die Lieferketten machen uns das Leben schwer, nicht nur bei technisch-industriellen Gütern, sondern auch bei Nahrungsmitteln oder im Gesundheitsbereich. Wir bewegen uns von einer Welt, in der man nach den tiefsten Kosten suchte, zu einer Welt, in der man einen gesicherten Nachschub will. Die Kosten steigen damit und die Margen werden kleiner. Dies ergibt eine ständige Inflation. 

Die Stimmung am Aktienmarkt scheint aber momentan nicht mehr so schlecht zu sein wie vor wenigen Wochen oder Monaten. Was macht für Sie das ‹halbvolle Glas› aus? 

Das halbvolle Glas haben wir, weil wir vor allem in den Vereinigten Staaten Infrastrukturprogramme haben. Erneuerbare Energien werden profitieren und einen Multiplikator-Effekt in die gesamte Wirtschaft hinein haben. Wir sehen, dass Investitionen kommen. 

Sie sprechen jetzt vor allem staatliche Programme an. 

Wenn man erst einmal die staatliche Vorlage hat, dann folgen die privaten Investitionen. Dazu kommt eine vollständige oder teilweise Repatriierung von Produktion. 

Wie zeigt sich dies am Aktienmarkt? 

Ein halbvolles Glas am Aktienmarkt sehe ich, weil gewisse Titel einfach 'mit dem Rest ihres Sektors' gefallen sind. Da wurden Aktien einfach verkauft, weil die Titel sehr liquide waren, oder weil die Titel missverstanden wurden. Aktien wurden einfach mit ETFs mitverkauft, weil sie einem gewissen Sektor zugeordnet wurden. Doch wir sehen jetzt Aktien, die nahe am Punkt sind, wo man kaufen kann. 

Haben Sie Beispiele? 

Da sind typischerweise eine Microsoft oder eine Visa. Beide haben sehr stark gelitten. Es sind aber Unternehmen mit Geschäftsmodellen, die als Dienstleister da sind, wenn mehr Produktivität gefordert ist. Fonds verkauften Microsoft zu früh und hielten an anderen, stärker gefallenen Titeln fest – dem liegt natürlich genau das falsche Denken zugrunde. Visa wiederum kam unter Druck, weil das Unternehmen im Tech-Sektor eingestuft ist, obwohl es primär ein Finanzdienstleister ist. 

Microsoft ist einer der grössten Positionen im Fonds, den Sie mitverwalten. Was bringt der Aktie wieder Wachstum? 

Der Cloud-Dienst auf der Azure-Plattform von Microsoft ist für viele Unternehmen immer noch die beste Lösung für deren IT-Infrastruktur. Microsoft-Produkte helfen, mehr Produktivität zu schaffen. Kein Chief Technology Officer eines Unternehmens verliert ihren oder seinen Job, weil sie oder er auf Microsoft setzt. Dies macht bei Microsoft den Unternehmenskunden-Markt sehr stark. Und wenn die Sales-Vertreter von Microsoft vorbeikommen, bringen sie eine sehr grosse Produktpalette mit. Microsoft ist grundsolide. 

Auch Amazon mit einem Kursrückgang von rund 44 Prozent dieses Jahr bleibt  eine der grössten Positionen in Ihrem Fonds. Was wird dem Titel wieder Schub geben? 

Bei Amazon ist der wichtigste Treiber klar die Cloud. Der Markt ist zwar etwas übersättigt, aber Amazon kann immer noch einen Drittel des Markets erreichen. E-Commerce hat bei Covid überschossen, es müssen jetzt Kosten rausgenommen werden. Doch Onlinehandel bleibt ebenfalls ein Treiber für die Amazon-Aktie. 

Der Kurs von Amazon ist nach der Publikation der Drittquartalszahlen und einem ernüchternden Ausblick Ende Oktober an einem Tag um 13 Prozent gefallen. Wo sehen Sie das Upside? 

Der Markt muss diese Unternehmen nüchterner betrachten als früher. Amazon muss jetzt eine Firma sein, wo man die Fundamentaldaten anschaut. Ein Unternehmen, bei dem man sich vielleicht nicht nur auf das konzentriert, was 2070 sein wird, sondern auch einmal anschaut, was 2023 sein wird. Amazon kann sich jetzt stärker auf Free-Cashflow konzentrieren. Dies bleibt eine Stärke des Unternehmens.

Der Fonds bleibt also deutlich auf Technologie-Aktien ausgerichtet. Sie haben aber beispielsweise Meta oder Adobe dieses Jahr aufgegeben. Inwiefern haben sich Kriterien für Tech Stocks 2022 verändert? 

Wir diversifizieren immer noch von Tech weg. Bei Adobe bringen digitale Werbung und die Cloud nicht mehr die gleiche Wachstumsqualität mit wie früher. Die Wachstumsraten werden gut sein, aber sie werden sich nicht mehr Jahr für Jahr verdoppeln. Dafür wird so ein Unternehmen jetzt viel stärker die Kosten kontrollieren. In einer normalisierten Wachstumsphase kann man mehr auf die Marge schauen. Solche schnell gewachsene Firmen können etwas 'zur Ruhe kommen'.

Bei den Zukäufen Ihres Fonds fallen Healthcare-Aktien auf. Weshalb engagieren Sie sich stärker bei Gesundheits-Titeln?

Unsere Allokation im Gesundheitswesen ist nicht ausschliesslich defensiv. Wir haben beispielsweise United Health gekauft. Letzteres ist eine Krankenversicherung in den USA, die Medicare privat verwaltet und Low-Cost-Spitäler betreibt. Eindeutig ein Wachstumstitel, aber im Gesundheitswesen. Im Gesundheitswesen sind wir mittlerweile mit 20 Prozent engagiert. Bei unseren Engagements in den Herstellern von Medizinalprodukten Thermo Fisher und Stryker wiederum setzen wir auf das Reopening: Chirurgie zum Beispiel, wo ein Nachholbedürfnis bei medizinischen Eingriffen nach der Coronapandemie besteht. Wir sind bei Gesundheitstiteln wiederum nicht nur in AstraZeneca investiert, sondern in Form von kleinen Positionen auch in Moderna und Biontech

Dies sind auch Titel, die 2022 einen Viertel an Wert eingebüsst haben. Darf man vermuten, dass Sie da nicht wegen der Corona-Impfstoffe investiert sind, weil diese nicht mehr die Rolle spielen wie 2021?

Wir glauben, dass beide 'biotech on steroids' sind. Biotech ist normalerweise die Story: Es gibt eine Pipeline, aber Cash ist nicht da. Bei Moderna und Biontech haben wir die RNA-Plattform. Diese wird in der Onkologie eingesetzt, einem riesigen Markt und dank der Corona-Impfstoffen haben beide Unternehmen ausreichend Liquidität, um ihr Wachstum voranzutreiben. 

Geographisch engagieren Sie sich stark in Lateinamerika, wo Femsa – der mexikanische Konzern, der die Schweizer Handelsgruppe Valora kauft – eine ihrer grossen Positionen ist. Was interessiert Sie besonders in dieser Region?

Natürlich sind das Wachstumsmärkte. Ein Unternehmen wie Femsa kann unserer Meinung nach für die Aktionäre enorm liefern. In Lateinamerika sind wir jetzt allerdings am 'topslicen' (partielle Gewinnmitnahmen, damit eine Position im Verhältnis nicht zu gross wird, Anm. d. Red.), weil der Markt steigt. Die Lateinamerika-Gewichtung wird nach heutiger Einschätzung nicht weiter ausgebaut werden. 

Lateinamerika hat viele Schwellenmärkte, für die der starke Dollar ein Thema ist. Suchen Sie sich Investments aus, die gut gegen den Dollar abgesichert sind, oder erwarten Sie eine nachhaltige Dollar-Schwächung?

Der Dollar profitiert natürlich vom Trend zurück zu einem Save Haven. Die komplizierte Weltlage nützt der US-Währung. In einer Risk-off-Welt wird sich der Dollar seitwärts bewegen. In einer Risk-On-Welt müsste der Dollar wieder verlieren. Die lateinamerikanischen Währungen haben sich jedoch gut gehalten und von den hohen Rohstoffkursen profitiert. Wir investieren in Lateinamerika zudem schwergewichtig in Banken, was man als Engagements in lokalen Währungen sehen kann. Ansonsten hedgen sie. Es sind für uns auch klar Investments mit dem Hintergrund Rohstoffe und Energie. Wir erachten es als wirtschaftlich effizienter, in Banken zu investieren statt in andere Branchen. So wird der Charakter der Anlagen weniger zyklisch.

Nina Lagron CFA ist seit Februar 2022 Teil des Teams, das den Fonds "Echiquier World Equity Growth" leitet. Dies ist ein Aktienfonds der Vermögensverwaltung La Financière de l'Echiquier (LFDE) mit Sitz in Paris. Nina Lagron arbeitete davor unter anderem für die UBS in London sowie die Asset Manager Amundi, Gemway Assets und La Française. 

Das Gespräch mit Nina Lagron wurde während einer Pressereise in Paris aufgezeichnet, zu der cash.ch von LFDE eingeladen worden war.