cash.ch: Herr Clay, in Ihrem Fonds sind Sie derzeit in Grossbritannien, Frankreich und der Schweiz übergewichtet. Was ist die Begründung dafür?

Nick Clay: Wir sind der Meinung, dass der US-Markt überbewertet ist. Und wir glauben nicht, dass der Mythos der «American Exceptionalism» ewig Bestand haben wird. Deshalb sehen wir derzeit bessere Bewertungsmöglichkeiten in Europa und im Vereinigten Königreich. Über diese Unternehmen erhalten wir auch Zugang zum asiatischen Konsumenten - insbesondere zum chinesischen, den der Markt derzeit praktisch für tot hält. Wenn wir uns davon überzeugen können, dass diese Kontroversen nur vorübergehender Natur sind und kein Dauerzustand, dann bietet sich hier ein sehr attraktiver Einstiegszeitpunkt bei vielen Aktien.

Zum Thema «American Exceptionalism»: Anfang des Jahres ging fast jeder davon aus, dass sie anhält und die US-Märkte weiter überperformen. Inzwischen hat sich dieses Bild etwas relativiert.

Da stimme ich Ihnen zu - die Leute stellen inzwischen die These der «ewigen amerikanischen Ausnahmeerscheinung» infrage. Allerdings glaube ich nicht, dass sich die Meinung an den Aktienmärkten bereits wirklich geändert hat. Wir sind nur ganz knapp unter den Allzeithochs, die im Februar erreicht wurden. Der Markt glaubt immer noch an das Mantra der letzten Jahre: Wann immer es zu einem Rücksetzer kommt - einfach immer kaufen. Denn es geht sowieso alles weiter nach oben…

…Sie sagten, wenn wir uns davon überzeugen können, dass diese Kontroversen nur vorübergehender Natur sind, wäre es ein guter Einstiegszeitpunkt bei vielen Aktien...

Genau. Das ist inzwischen eine immer riskantere Wette, denn es ist ziemlich klar, dass die Politik unter Trump die Wahrscheinlichkeit für eine Rezession sowie für eine Rückkehr der Inflation erhöht hat. Beides wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit für mehr Volatilität - sowohl im wirtschaftlichen Umfeld als auch bei der Fähigkeit von Unternehmen, die vom Markt geforderten Erwartungen zu erfüllen. Erwartungen zu übertreffen wird deutlich schwieriger, wenn die Rahmenbedingungen volatiler, unsicherer und im Wandel sind. Und dennoch wird der S&P 500 derzeit mit einem KGV von über 20 gehandelt - das heisst, die Erwartungen an die Unternehmen bleiben extrem hoch.

Was wäre für Sie als Einkommensinvestor denn eine normale Bewertung?

Für uns liegt ein normales Bewertungsniveau bei einer Free-Cashflow-Rendite von 5 Prozent oder mehr. Der Weltaktienindex MSCI World liegt bei etwa 4 Prozent. In den USA ist sie noch tiefer - 3,5 oder gar nur 3 Prozent, je nach Index. Das bedeutet allerdings nicht, dass es keine interessanten Möglichkeiten gibt. Die Bewertung des Gesamtmarktes wird stark verzerrt durch eine sehr hohe Konzentration auf eine kleine Gruppe von Aktien – die «Magnificent Seven». Es gibt durchaus viele qualitativ hochwertige Unternehmen, die zu attraktiven Bewertungen gehandelt werden - genau in diese investieren wir.

Sie scheinen viele Titel in Grossbritannien gefunden zu haben. Allerdings wird das Vereinigte Königreich manchmal als ein Umfeld mit hohen Renditen, niedriger Bewertungshöhe, aber auch niedrigem Wachstum charakterisiert. Ist das nicht ein Problem?

Das wäre es, wenn die Unternehmen, in die wir investieren, tatsächlich dauerhaft kein Wachstum aufweisen würden. Aber wir investieren in Unternehmen, bei denen wir davon ausgehen, dass ihre Probleme nur vorübergehend sind und sie mittelfristig wieder ordentlich wachsen können. Zwei Beispiele: Diageo und Versicherer. Diageo hatte Schwierigkeiten beim Verkauf hochpreisiger Spirituosen - unter anderem durch vorgezogene Lagerkäufe angesichts erwarteter Preiserhöhungen oder Zölle. Wir glauben – wie bei unseren Luxusgütertiteln -, dass solche Preisaufschläge oder Zölle auf Premiumprodukte nur temporär sind. Schottischer Whisky kann nur aus Schottland kommen, Tequila nur aus Mexiko - wohlhabende Konsumenten gewöhnen sich an die höheren Preise, und das Wachstum wird zurückkehren. Ähnlich bei Versicherungen: Nach der Pandemie hat die Schadeninflation das Gewinnwachstum gebremst. Aber manche Versicherungsprodukte sind in vielen Ländern gesetzlich vorgeschrieben. Sie müssen gekauft werden - das schafft stabile Cashflows. Inzwischen konnten die Versicherer ihre Prämien wieder anheben. Solche Unternehmen zu kaufen, obwohl der Markt ihnen dauerhaft kein Wachstum mehr zutraut, ist aus unserer Sicht extrem attraktiv.

Zurich Insurance ist Ihre grösste Position. Aus denselben Gründen?

Richtig. Zurich haben wir sogar noch länger im Portfolio als die britischen Versicherer - aber aus denselben Gründen: Die Prämien konnten erhöht werden und das Wachstum geht weiter. Zudem halten wir Zurich für einen der Versicherer mit der stärksten Bilanz. Der Grund, warum Zurich heute unsere grösste Position ist, liegt in der markanten Kurssteigerung. Die Bewertung ist heute jedoch bei Weitem nicht mehr so attraktiv wie damals beim Einstieg.

Können Sie etwas genauer auf Ihre Bewertungskriterien eingehen?

Wir analysieren jedes Unternehmen anhand einer Bandbreite möglicher Szenarien - und schauen, was der aktuelle Kurs über diese Bandbreite aussagt. Ist die Bandbreite der möglichen Ergebnisse positiv oder negativ verzerrt? Bei Versicherern etwa sind die Ergebnisse weniger konjunkturabhängig, sondern hängen stärker von Schadenszyklen, Schadeninflation und dem sogenannten Kapitalzyklus ab - also davon, ob Kapital in den Sektor fliesst oder ihn verlässt. Zurich fanden wir deshalb interessant, weil wir überzeugt waren, dass sie die stärkste Bilanz der Branche haben und ihre Dividenden auch dann weiter steigern können, wenn die Prämien unter Druck geraten oder mehr Kapital in den Markt kommt und damit die Underwriting-Margen belastet. Für uns als Einkommensinvestoren ist das zentral, denn unsere Gesamtrendite für die Kunden setzt sich zusammen aus Kursgewinnen und der Dividendenrendite. Heute ist die Bandbreite der möglichen Ergebnisse bei Zurich etwa 50:50 - in der Hälfte der Fälle verdient man Geld, in der anderen Hälfte eher nicht.

Sie sind untergewichtet in Technologie, Kommunikation und Banken. Warum bei den Banken?

Denken Sie nochmals an die Bandbreite möglicher Szenarien und an die zunehmende Rezessionswahrscheinlichkeit. Wenn man modelliert, was mit Banken in einer Rezession passiert - also wenn notleidende Kredite oder Ausfälle steigen -, will man nicht investiert sein. Aktuell sind Kreditausfälle praktisch nicht vorhanden - so lange schon, dass viele Anleger wahrscheinlich vergessen haben, wie ein echter Ausfallzyklus aussieht. Deshalb ist nicht nur die Bewertung, sondern auch die Dividendenstabilität der Banken riskanter, als viele glauben.

Glauben Sie, dass jetzt die Zeit für aktive Manager oder Stockpicker gekommen ist - nach 15 Jahren Dominanz des passiven Investierens?

Die Zeit ist für «bestimmte» aktive Fondsmanager gekommen, um zu glänzen. Eine der Herausforderungen für die Branche ist, dass wir es mit einer so langanhaltenden Marktkonzentration zu tun hatten, dass viele aktive Manager unbemerkt auf die «Wachstumsseite des Bootes» geraten sind. Wachstum hat alles dominiert. Risikosysteme sagen ihnen: Kauf mehr Nvidia, mehr Tech, mehr USA. Das hat viele Prozesse und Anlagestrategien unter Druck gesetzt. Und jetzt - wo aktive Ansätze dank steigender Volatilität wieder glänzen könnten - stehen viele leider auf der falschen Seite des Boots.

Nick Clay ist Portfolio Manager der Redwheel Income Strategy und leitet das Global Equity Income Team des britischen Finanzdienstleisters. Er begann seine Karriere 1991 bei Sun Alliance und hatte verschiedene leitende Positionen im Fondsmanagement inne, darunter bis 2020 die Leitung des Bereichs Equity Income bei Newton. Sein Rat an künftige Generationen lautet, dass die vielen Fehler, die wir alle unweigerlich machen, der wichtigste Motor des Lernens ist.
 

Luca_Niederkofler
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