cash.ch: Bei der Gasversorgung befürchtet man, dass am 21. Juli die Pipeline Nord Stream 1 nicht mehr aufgeht. Was würde in diesem Falle an der Börse passieren? 

Thomas Steinemann: Die Energiepreise würden im Fall eines Gaslieferstops weiter anziehen. Industrie-Aktien bekämen mit noch höheren Inputpreisen und tieferen Margen noch mehr Probleme. Man hofft nicht, dass es zum Gaslieferstopp kommt. Ein solches Szenario ist nur zu etwa 50 Prozent eingepreist. Aber die Illusionen nehmen generell langsam ab, was den Ukraine-Krieg angeht. 

Mit dem Krieg in der Ukraine entsteht der Eindruck einer 'politischen Börse', was die Märkte ja nicht so mögen. Wie sehr prägt dieser Krieg das Börsengeschehen? 

Der Beginn des Kriegs kam für die meisten völlig unerwartet und war ein Schock. Die Börsenregel 'Kaufen, wenn die Kanonen donnern' basiert darauf, dass die Börse vor einen Krieg negativ ist. Beim Irak-Krieg hatte sich der Kriegsbeginn lange abgezeichnet und als er anfing, stiegen die Kurse. Dies war im jetzigen Krieg nicht so. Es wird zudem immer klarer, dass uns der Krieg in der Ukraine noch länger begleiten wird. Die Belastungsfaktoren scheinen da zu sein, um zu bleiben. Wir stellen uns bereits auf höhere Energiepreise ein. Langsam, aber sicher, haben wir keine politische Börse mehr.

Neben dem Krieg beschäftigen die Inflation und damit die steigenden Zinsen die Finanzmärkte. Im Moment schätzen die Märkte, dass die Federal Reserve in den USA auf 3,5 Prozent gehen wird. Ist das auch Ihre Prognose? 

Es gibt diese Vermutung. Ich halte sie für realistisch. Aufgrund der am Mittwoch publizierten Inflationszahl von über 9 Prozent in den USA könnte es auch noch mehr werden. Diskutiert wird viel darüber, wo der neutrale Zins liegt, der weder expansiv noch restriktiv wirkt. Viel hängt aber immer noch von der weiteren Entwicklung ab. 

Aber lassen sich nicht deutliche Unterschiede zwischen den USA, Europa oder der Schweiz feststellen? 

Bei der Inflation in den USA muss man schon sagen: Der fiskalische Stimulus, mit dem in den vergangenen Jahren über 1000 Milliarden Dollar in eine boomende Wirtschaft hineingepumpt wurden, war fahrlässig und auch überflüssig. Dies hat zur Überhitzung geführt. Der Federal Reserve kann man insofern vorwerfen, dass sie angesichts dieses Fiskalprogramms nicht früher restriktiv geworden sind. In Europa passierte so eine 'Fiskal-Orgie' nur abgeschwächt, und in der Schweiz überhaupt nicht. So erklärt sich das Inflationsgefälle. Aber in diesem Umfeld haben es die Aktien schwer, das ist klar. Bei den Obligationen erleben wir es aber genauso. 

Welche Beobachtungen machen Sie am Obligationenmarkt? 

Bonds und Aktien korrelieren derzeit: Beide liefern negative Renditen. Dies führt dazu, dass Bonds kein gutes Mittel für die Diversifikation sind. Bei 10-jährigen eidgenössischen Obligationen sehen wir im Jahresverlauf ein Minus von 10 Prozent und umgekehrt steigen die Renditen. Dass wir sie auf 3 oder gar 4 Prozent steigen sehen werden, ist nicht unrealistisch. Dann stünden bei Bonds Verluste um 20 Prozent ins Haus. 

Die Aktienmärkte fürchten hohe Zinsen zwar - wobei diese ja auch positiv aufgenommen werden können. Oder gilt dies nicht in einer Mehrfach-Krise wie heute? 

Die Zentralbanken sprechen seit langem von einer Zielinflation bei 2 Prozent. Unter der Annahme eines positiven Realzinses würde das Zinsniveau bei 3 Prozent liegen. Deswegen wäre ein 3-Prozent-Zinsniveau völlig normal. Das wäre nur ein Zeichen der Normalisierung. 

Wie wird sich Ihrer Ansicht nach die Inflation weiter entwickeln?

Die kurzfristigen Zinsen steigen, die langfristigen sinken aber. Dies ist zwar ein rezessives Zeichen, deutet aber auch auf eine tiefere Inflation hin. Der Markt sagt, dass die 9 Prozent Inflation zurückkommen. Und ich finde, dass 'the wisdom of the crowd' nicht unterschätzt werden sollte. Denn der Bondmarkt ist der abgeklärtere Markt als der Aktienmarkt. Am Bondmarkt wird kühler berechnet, während am Aktienmarkt mehr Emotionen herrschen. Manchmal fast schon Hysterie. Deswegen muss man den Bondmarkt ernstnehmen. Und er sagt, dass die Inflation zurückkommen wird. 

Könnte in diesem Zusammenhang eine leichte Rezession, welche die Inflation dämpft und zu einem langsameren Zinsanstieg und einer expansiveren führt, genau das sein, was die Aktienbörsen im Moment bräuchten? 

Das ist die grosse Diskussion: Inwieweit die Zentralbanken bei ihrem Zinserhöhungskurs wieder einknicken werden, wenn es wirtschaftlich schlechter läuft. Ich glaube aber, dass die Zinsen weniger stark steigen werden als man dies bis vor kurzem noch antizipiert hat. Wir haben eine Rezession - oder je nach Definition, eine deutliche Abkühlung der Weltwirtschaft. Wir haben zwar im Moment zwar einen fast 'perfekten' Arbeitsmarkt, aber dies wird nicht so bleiben. Die Arbeitslosigkeit wird wieder zunehmen. Die Notenbanken werden die Zinsen vor diesem Hintergrund nicht explosionsartig anheben. Natürlich werden die Zinsen weiter steigen, aber nicht in einem Ausmass, wie man es bei 9 Prozent Inflation meinen könnte. 

Noch ist die Zinsangst der Märkte da. Seit Ende 2021 haben die meisten wichtigen Aktienmärkte verloren, im Schnitt rund 20 Prozent - wo sind wir im Moment? 

Von den Zinsen kommt auch weiterhin Gegenwind. Ein weiterer Rückgang der Kurse ist zu erwarten. Ich erwarte, dass die Gewinnschätzungen jetzt noch zurückkommen werden: 20 Prozent sind durchaus denkbar. Dies kann schnell zu einer Negativspirale führen, die uns sicherlich noch die nächsten sechs Monate beschäftigen wird. Wir haben den Boden bei den Aktienkursen noch nicht gesehen. 2022 bietet mit all den Krisen für den Moment noch eine unglückliche Situation. Wir müssen uns noch einmal vergegenwärtigen, dass 2020 die Weltwirtschaft quasi für einen Moment 'auf Null' gestellt war. Die Inflation hat im Zuge eines Aufholeffekts nach den Corona-Lockdowns angezogen. Der Aufholeffekt hat aber auch etwas positives. 

Was meinen Sie damit genau? 

Wir werden eine neue Phase der Globalisierung sehen. Wir werden nicht weniger Globalisierung sehen, sondern eine dezentralere. Diese Globalisierung wird besser organisiert sein als jene, die wir bisher gekannt haben. In der 'Globalisierung 2.0' spielen mehr Zentren eine Rolle als bisher. Ein Klumpenrisiko wie China wird reduziert werden. Genauso, wie wir es jetzt mit dem Ukraine-Krieg und den grossen Abhängigkeiten von einzelnen energieexportierenden Ländern sehen. 

Abgesehen von einer möglichen Gaskrise und hoher Unsicherheit auch bei vielen anderen Faktoren: Wie liegen die Chancen für die Aktienmärkte? 

Kurzfristig sind die Risiken höher als die Chancen. Aber langfristig nicht. Jede Krise endet einmal.  Und in jeder Krise gab es den Zeitpunkt, an dem es sich gelohnt hat, wieder zuzukaufen. Niemand weiss genau, wann dies ist. Manchmal ist es auch Glückssache, im richtigen Moment zuzukaufen. Aber was es braucht, ist das Verständnis für Chancen. Wir sehen Top-Firmen, die noch die Hälfte von dem kosten, was sie Anfang Jahr wert waren. Und ja, die Kurse können noch einmal um 10 Prozent sinken. Aber wenn es gute Firmen sind, dann heisst dies, dass sie Krisen überleben werden. 

Also das bewährte Muster: Starke Bilanz, wenig Fremdkapital, gutes Management.

Wenn die Zinsen steigen ist dies für Firmen mit grossem Fremdkapitalanteil ein Problem. Aber dies trifft ja längst nicht auf alle zu, auch nicht bei den Tech-Firmen. Unter Druck kommen auch Firmen mit Top-Bilanzen. Der Markt wirft im Moment alles in einen Topf.

Dieses Bild zeigt sich auch bei Small & Mid Caps an der Schweizer Börse. Aber bei Anzeichen der Rezession und sinkenden Gewinnaussichten - braucht es nicht viel Nerven, dann den Mut haben, weiter hinauszublicken? 

Ich frage mich, wie die Welt in fünf Jahren aussehen wird: Werden wir zurückgehen zum Telefon mit Kabel, zu Schwarz-Weiss-Fernsehern oder Kondensatorenröhren statt Computerchips? Natürlich nicht. Es wird, im Gegenteil, alles noch dynamischer. Wer dies nicht glaubt, setzt auf Rohstoffe, Baustoffe, Minen, und verkauft Technologie. Aber ich bin sicher, dass Innovation und Technologie weiterhin eine Rolle spielen werden. Der Schweizer Aktienmarkt verfügt über die Weltmarktführer, auf die es ankommen wird. 

Das Szenario, für das man sich positionieren soll, haben Sie somit umrissen. Es stellt sich dennoch die Frage, wie man sich verhalten soll: Würden Sie jetzt schon bei Aktien einsteigen? 

Im Moment würde ich noch etwas warten. Aber für 'das Leben danach' würde ich führende Industrieunternehmen in der Schweiz anschauen wie SikaVATEms-ChemieBelimo. Alles Weltmarktführer, die einen Einbruch - der in Tat und Wahrheit schlicht ein Unterbruch ist - erleben. Diese Aktien haben stark korrigiert, aber sie werden die Krise überstehen. Es gibt auch weitere Beispiele für sehr interessante Aktien. Der Finanzdienstleister Cembra hatte vor einem Jahr wegen des Kunden Migros ein Problem. Aber dieses Jahr ist der Kurs im Plus. Jetzt arbeitet das Unternehmen, das über ein sehr gutes Management verfügt, mit der Zurich-Versicherung zusammen.

Bellerive hat auch vor den verschiedenen Krisen, die wir jetzt erleben, defensive Investments wie Versicherungen empfohlen. Bleibt es dabei? 

Auf der defensiven Seite spielen die Versicherer ihre Stärken aus. Sie sind derzeit eines der attraktivsten Segmente an der Schweizer Börse. Ihnen nützt auch das steigende Zinsumfeld. Swiss Life, ein Lebensversicherer, hat sich mit Immobilien und dem Asset Management klug im Finanzbereich diversifiziert. Auch Zurich unter CEO Mario Greco ist ein sehr gutes Unternehmen, das zudem das nicht einfache US-Geschäft im Griff hat. Um in der Finanzindustrie zu bleiben: Die grossen Banken profitieren zwar auch von den höheren Zinsen, doch bei denen ist strukturell Shareholder-Value vernichtet worden. Man kann sie allenfalls aus Trading-Perspektive anschauen.

Dass Obligationen sich derzeit nicht gut zur Diversifizierung eignen, haben Sie gesagt. Mit welchen anderen Instrumenten, Anlagen, Anlageklassen soll man sich als Aktieninvestor derzeit diversifizierten respektive absichern?

Obligationen werden sich schon wieder eignen, aber erst, wenn der Zins-Peak erreicht sein wird. Für Gold ist das Umfeld auch nicht ideal. Der steigende Dollarkurs ist die Erklärung dafür, dass der Goldpreis nicht durch die Decke geht. Auch steigende Zinsen sind nicht gut für Gold, wohl aber die höhere Inflation. Gold dürfte somit eher seitwärts laufen, und damit immerhin einen gewissen Anker darstellen. Zur Diversifikation eignen sich allerdings auch alternative Anlage. Sehr gute Hedgefonds sind im Jahresverlauf deutlich im Plus. Ob sich Kryptowährungen zur Diversifikation eignen, ist fraglich. Ich bin schon etwas erstaunt, dass Kryptos in dieser Krise nicht besser abschneiden.