cash.ch: Bei Ihnen in London sagte der renommierte Epidemiologe Jonathan Van-Tam vergangene Woche, das Coronavirus werde vielleicht «für immer» unter uns sein. Dies klingt trotz Impfstoffhoffnungen nach einer schlechten Nachricht. Nicht nur für die Menschen, sondern auch die Wirtschaft und die Finanzmärkte.

Johanna Kyrklund: Nun, es ist möglich, dass das Coronavirus für immer vorhanden sein wird, aber wir werden lernen, damit zu leben. Und auch der Markt kann damit leben. Was er nicht kann, ist mit sehr grosser Unsicherheit leben zu müssen. Im vergangenen März noch fehlte uns komplett eine Orientierung, wie wir mit dem Virus umgehen sollten.

Wir werden aber wohl einige unserer Gewohnheiten ändern müssen.

Ja, das denke ich auch. Wir werden in vielem flexibler werden müssen, beispielsweise im Arbeitsalltag. Aber die Finanzmärkte interessiert Fragen wie, ob in sechs Monaten wieder mehr Menschen in der Freizeit ausgehen werden, oder ob wieder mehr geflogen wird. Und ja, ich denke, das wird so sein.

Für einen Ausblick auf 2021 fehlen aber viele Gewissheiten. Was kann man aus Sicht der Finanzmärkte und der Wirtschaft überhaupt sicher voraussagen?

Die Unsicherheit hat sich im Vergleich zu vor sechs oder neun Monaten erheblich verringert. Impfstoffe gegen das Coronavirus sind auf dem Weg. Wir werden Herausforderungen bei der Verteilung und bei der Anwendung sehen, aber wir wissen nun, dass Impfstoffe erhältlich sind. Wir können zudem mit dem Virus Infizierte besser behandeln. Wir wissen aber auch, dass Regierungen und Notenbanken der Wirtschaft helfen. Im vergangenen März waren wir unsicher, was diesbezüglich genau passieren würde. Dann schliesslich sind die Präsidentschaftswahlen in den USA entschieden worden. Dies alles relativiert die extremeren Szenarien, die früher in diesem Jahr die Runde gemacht haben. Die Unsicherheit ist zurückgegangen.

Macht dies Marktausblicke einfacher?

Dies bereitet immer noch gewisse Schwierigkeiten. Aber ich glaube, dass das Marktumfeld mindestens in den nächsten sechs Monaten positiv ist. Wir werden Schritt für Schritt in die Normalität zurückkehren.

Grossbritannien hat ja den ersten Impfstoff bereits zugelassen. Wie schätzen Sie die wirtschaftlichen Folgen ein, nachdem weitere Länder Impfstoffe zugelassen haben werden?

Der wirtschaftliche Effekt wird sich schrittweise einstellen. Zuerst werden sicherlich sehr gefährdete Menschen und Angehörige des medizinischen Personals geimpft. Wir sprechen aber auch schon darüber, ob es Impfungen aus Voraussetzungen für Reisen geben soll. Dann würde auch wieder mehr gereist werden. Die Finanzmärkte indessen werden sich schon bei geringfügigeren Verbesserungen der Konjunkturlage bewegen. Wir sind, was die Konjunkturerholung betrifft, aber immer in einer U-Situation, nicht in einer V-Situation.

Aber haben wir das Gröbste wirklich schon hinter uns? Drohen nicht schnell neue konjunkturelle Einbrüche?

Das grösste Risiko ist ein Abbau von Unterstützungsmassnahmen. Zentralbanken könnten durchaus auf die Idee kommen, angesichts einer Erholung – etwa dank Impfstoffen – dem Markt wieder Liquidität zu entziehen.

Befürchten Sie dies vor allem in Bezug auf die USA oder generell?

Für die Märkte kommt es am meisten auf die amerikanische Notenbank, die Federal Reserve, an. Die Fed hat meiner Ansicht nach ziemlich deutlich klargemacht, dass sie auch einen Anstieg der Inflation in Kauf nehmen werde. Unser Szenario ist, dass die Zinsen bis 2023 nicht angehoben werden. Die Finanzmärkte könnten aber dennoch unruhig werden, wenn das Wachstum stärker ausfällt als erwartet, oder wenn der Inflationsdruck besonders stark anwächst. Es ist noch zu früh, mit einer anziehenden Inflation zu rechnen. Auf der Seite der Produktion sehen wir aber Anzeichen einer Überhitzung. Daher muss die Inflation im Auge behalten werden.

Ist Schroders in Aktien weiter übergewichtet?

Ja, das sind wir. Anleihen werfen weiterhin kaum Rendite ab, daher spielen wir auf der Suche nach besseren Renditen die "Risikokarte" Aktien. Wir sind nach wie vor in einer Phase, in der grosse Chancen bestehen, mit einer stärkeren Positionierung in Aktien Geld zu verdienen. Allerdings muss man noch vorsichtig sein und in erster Linie auf Qualität setzen. Wir sind letztlich immer noch in einer Welt, in der Brüche drohen und in der das Wachstum noch schwach ist.

Auf welche Segmente legen Sie ein besonderes Augenmerk? Die «heissteste» Geschichte am Aktienmarkt war dieses Jahr Technologie, aber geht das so weiter?

Wir sind besonders optimistisch bei zyklischen Aktien, aber wir sind nicht sehr interessiert an den Tech-Aktien, wenn Sie beispielsweise die FAANG-Aktien (Anm. d. Red: die grossen US-Technologietitel Facebook, Apple, Amazon, Netflix und Google-Alphabetmeinen. Diese sehen derzeit einfach sehr überkauft aus. Sie waren schon Anfang 2020 sehr stark und haben von der Covid-Krise profitiert. Aber jetzt sortieren Anleger die Covid-Gewinner und Covid-Verlierer neu. Die Gelegenheiten im Markt liegen woanders als bei den FAANG-Aktien.

Wo sehen Sie diese?

Wir schauen vor allem auf Industrieaktien. Die Krise war eine der Dienstleitungsbranchen. Der industrielle Zyklus gibt Lebenszeichen, vor allem in Asien. Asien hat sich durch die Krise hindurch sehr gut gehalten und ist schon fast zurück in der Normalität. In Asien trägt man schon lange Gesichtsmasken, wenn man erkältet ist. Das zeigt uns insofern auf, wie man wirtschaftlich operativ bleiben kann, auch wenn man Gewohnheiten im Alltag ändern muss. Wir gewichten aber auch kleinkapitalisierte US-Unternehmen höher, jetzt, wo die Erholung angefangen hat.

Ihre Einschätzung der Aktienmärkte für 2021 ist positiv und ist auf eine zyklische Erholung ausgerichtet. Schliesst der Optimismus auch ihren Heimmarkt Grossbritannien ein?

Interessant an den Märkten im Vereinigten Königreich ist, dass sie deutlich unterperformt haben. Natürlich hängt der Schatten des Brexit nach wie vor über ihnen. Ein wichtiges Merkmal des britischen Marktes sind die vielen kotierten Banken, Energie- und Rohstoffunternehmen. Diese Aktien sind generell günstig, aber es braucht für höhere Kurse gewisse Auslöser. Die Entwicklung beim Brexit und das Ausmass der Erholung der Märkte sind da entscheidend. 

Sie erwähnten bereits, dass die Anleihen wenig Rendite bringen. Was wird 2021 für Anleihe-Investoren hergeben?

Es wird schwierig bleiben. Anleihen werden weiterhin nur wenig Renditepotential haben. Typischerweise nimmt man Anleihen, um Deflationsrisiken abzusichern. Aber auch dort ist die Wirksamkeit von Absicherungen geringer geworden. Für die Renditen gibt es sicherlich Chancen, höher zu gehen, wenn sich das Gesamtumfeld normalisiert. Aber viel wird es nicht sein, denn die Fed behält die Zinsen tief.

Gold wiederum hat ja ein gutes Jahr gehabt, ist zuletzt aber wieder etwas unter Druck gekommen. Wie wird diese «Krisenwährung» weiter im Kurs stehen?

Gold ist natürlich als Absicherung interessant und erscheint unter anderem daher als attraktiv, weil die Kosten für Anleihen im Vergleich höher sind. In einer Sicht auf drei bis fünf Jahre wird Gold weiter eine strategische Rolle in Portfolios spielen. Wegen der hohen Verschuldung werden die Notenbanken versuchen, die Renditekurven von Anleihen abzuflachen, und dies macht Gold attraktiv. Auch wenn die Inflation einmal anziehen wird, wird Gold interessant bleiben.

Also dürfte es Bitcoin schwer haben, Gold als Stabilitätsanker zu ersetzen. Darüber ist ja nun auch schon spekuliert worden, angeheizt etwa durch die zuletzt beträchtliche Rally bei der führenden Kryptowährung.

Die Zeit ist für Bitcoin noch zu früh. Wir können immer noch nicht genau sagen, ob Bitcoin wirklich als Wertspeicher taugt oder nicht. Es ist kein breit eingesetztes Zahlungsmittel. Die grosse Herausforderung ist nach wie vor die Bewertung. Die Bewertung ist geprägt von Angebot und Nachfrage und diese sind sehr spekulationsgetrieben. Dies ist ein Problem. Die Grundlage für Käufe sind daher vor allem Impulse. Als Absicherung würde ich eher Gold als Bitcoin nehmen.

Johanna Kyrklund ist seit 2019 Group Chief Investment Officer des britischen Vermögensverwaltungsbank Schroders. Sie ist ebenfalls zuständig für die Abteilung Multi Asset Investments, die sie seit 2007 leitet. Schroders ist auf allen fünf Kontinenten tätig und verwaltete Mitte 2020 Vermögenswerte von 526 Milliarden Pfund.