cash.ch: Letzten Montag verzeichnete die Schweizer Börse das stärkste Minus seit Januar. Angesichts der steigenden Infektionszahlen und möglicherweise länger anhaltenden Einschränkungen fürchteten die Investoren einen Dämpfer für die Weltkonjunktur und die Unternehmensergebnisse. Ist dies ein Vorbote für turbulente Märkte in den kommenden Monaten?

Mario Geniale: Es ist tatsächlich so, dass der Markt auf kurze Frist holpriger wird. Der Juli und der August sind normalerweise nicht die besten Börsenmonate. Das Handelsvolumen ist im Sommer ferienbedingt meist deutlich tiefer, was zu einer höheren Volatilität führt. Analysen zeigen, dass die Sommermonate historisch gesehen zu den schwächsten gehören.

Danach geht es trotz Virus- und Wachstumssorgen wieder weiter aufwärts?

Wenn der Juli und August hinter uns liegen, dürfte der Markt weiter anziehen. Die Notenbanken werden weiter Liquidität in die Märkte fliessen lassen. Auch die Staaten pumpen mit ihren Fiskalprogrammen weiterhin Geld in die Wirtschaft und die Unternehmensresultate sind sehr stark ausgefallen. Vor allem die Zahlenkränze der zyklischen und der Small- und Mid Cap Unternehmen liegen zum Teil deutlich über den Erwartungen. Zudem wird immer deutlicher, dass bei einer hohen Durchimpfung die Todesfälle auch bei der ansteckenderen Delta-Variante tief bleiben und auch die Hospitalisierungen nicht übermässig stark steigen werden. Grosse Verwerfungen in der Wirtschaft sind daher wenig wahrscheinlich.

Sie gehen davon aus, dass die Zentralbanken expansiv bleiben und die Geldschleusen offenlassen. Gilt daher immer noch «buy the dip», bei Korrekturen zukaufen?

Ja, es könnte zwar auf kurze Sicht eine Korrektur an den Märkten geben, da der Markt aktuell überkauft ist. Der SMI hat alleine seit Anfang Mai über 8 Prozent zugelegt. Wir rechnen jedoch damit, dass allfällige Rücksetzer nicht über 10 Prozent ausfallen werden. Wenn sich die Ausgangslage nicht verändert, sollte man dann die Gelegenheit nutzen und zukaufen.

Auf welche Indikatoren sollten Anlegerinnen und Anleger in nächster Zeit vor allem achten?

Ende August kommt Jackson Hole, das jährliche Meeting der Zentralbanken. Anleger sollten darauf achten, was dort kommuniziert wird. Wie man am Rückgang der Renditen der zehnjährigen US-Staatsanleihen beobachten kann, sind die Erwartungen des Marktes bezüglich der Zinserhöhungen ins nächste Jahr vorgeschoben worden. Der Markt ist hier sehr pessimistisch.

Die wichtigere Frage ist vermutlich vielmehr, wann die Zentralbanken die Anleihenkäufe reduzieren. Stichwort Tapering.

Ja, eindeutig. Die US-Notenbank Fed wird das Szenario 2018, gleichzeitige Zinserhöhung und Tapering, verhindern. Es geht momentan vielmehr darum, den Markt darauf vorzubereiten, die Ausweitung der Bilanz zu beenden und über die Zeit leicht zu reduzieren. Ich bezweifle aber, dass dies langfristig möglich sein wird. Die Zentralbanken werden in den nächsten Jahren ihre Bilanzen vielmehr weiter ausbauen. Eine Zentralbankbilanz in der Höhe des BIP über die nächsten zehn Jahre ist nicht unrealistisch.

Was sind die Gründe für ihre Einschätzung?

Die Zentralbanken kennen keine andere Medizin. Wenn Probleme auftauchen, wird dies mit Liquidität gelöst. Es gibt dazu schlicht und einfach keine Alternativen, die Zinsen in Europa befinden sich ja bereits im negativen Bereich. 

Denken Sie hierbei auch an die Staatsverschuldung, die finanziert werden muss?

Auf der einen Seite sind zu diesen Renditeniveaus die einzig ernstzunehmenden Käufer im Anleihemarkt die Zentralbanken. Auf der anderen Seite wird es über kurz oder lang zu Steuererhöhungen kommen. Dies könnte auf mittlere Frist das Wachstum beeinträchtigen. 

Liegt die Spitze im Wachstum schon hinter uns?

Auf kurze Sicht haben wir noch einen Nachholeffekt. In den USA sind die Lagerbestände bei den Unternehmen noch niedrig. Es dürften hier weiterhin Aufstockungen erfolgen. Auch für 2022 sehen wir ein starkes Wachstum. Die grosse Wachstumsbewegung liegt aber hinter uns.

Bei der Inflation geht der Markt nur von einem vorübergehenden Anstieg aus. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Die Dynamik wird sich im nächsten Jahr abschwächen. Aktuell spielen Aufholeffekte eine übergeordnete Rolle. Zudem wirken Technologie und Überalterung deflationär. Und ab 2023 wird sich der Aufwertungsdruck wegen des verminderten Wachstums verringern.

In Anbetracht ihrer Markteinschätzung für die nächsten Monate, bei welchen Schweizer Titeln sehen Sie noch Potenzial?

Zuerst muss man sagen, dass die gut gelaufenen zyklischen Small & Mid-Cap-Unternehmen wie Rieter oder Bachem vermutlich eine Verschnaufpause einlegen werden. Roche bleibt trotz des vorsichtigen Ausblicks ein interessanter Titel. Aber auch Vifor besitzt mittelfristig signifikantes Kurspotential. Und bei AMS wird das Potenzial vom Markt deutlich unterschätzt, da dank der Übernahme von Osram die Abhängigkeit vom Grosskunden Apple massiv reduziert werden konnte. Die ganze Diskussion um den Aufbau der Infrastruktur in den USA und Europa dürfte Titeln wie Holcim oder Stadler Rail zugutekommen. Auch Swatch empfehlen wir, da der Titel erst am Anfang der Erholung steht.

Doch Swatch fällt aus dem Swiss Market Index…

Die institutionellen Anleger werden umschichten. Dies ist aber nur ein temporärer Effekt.

Die UBS hat diese Woche sehr starke Zahlen geliefert. Sehen Sie bei den Grossbanken noch Potenzial?

Auf kurze Frist könnte die Credit Suisse überraschen, da hier die Erwartungen extrem tief und die Unsicherheiten sehr gross sind. Der Titel wurde stark abgestraft. Mittel und langfristig favorisieren wir die UBS. Grossbankaktien sind jedoch nur aus einer Tradingperspektive interessant und eignen sich nicht als Langfristanlage.

Schweizer Versicherungstitel hinken den Zyklikern weiterhin hinterher. Bietet sich hier eine gute Einstiegschance für Anlegerinnen und Anleger?

Absolut. Wir finden Versicherungen weiterhin attraktiv. Klar, die Pandemielage und die aktuellen Unwetter lasten auf den Aktien. Aber grundsätzlich sehen wir ein grosses Potenzial. Wir empfehlen Zurich Insurance und Swiss Life. Wir sind nicht so positiv für Rückversicherer wie Swiss Re.

Bei welchen Schweizer Aktiensegmenten sehen Sie grosse Risiken?

Obwohl noch Aufholeffekte möglich wären, sind wir bei Tourismuswerten vorsichtig. Doch auch im nichtzyklischen Konsumgüterbereich, wo Nestlé dazugehört, sind wir eher zurückhaltend.

Doch Nestlé gehört doch zu den Basispositionen in jedem Portfolio?

Ja, sicherlich. Der Titel ist aber schon gut gelaufen und hoch bewertet. Das Potenzial ist limitiert.

Wie sichern sich Anlegerinnen und Anleger gegenüber den bestehenden Marktrisiken am besten ab?

Gold ist die natürliche Absicherung gegenüber jeglichen Risiken. In den vergangenen Monaten ist ein beachtlicher Teil der Geldflüsse anstatt in Gold in Kryptowährungen geflossen. Der Fokus hat sich verlagert. Trotzdem sollte Gold auf mittlere und lange Frist ein fixer Bestandteil im Portfolio sein. Wir sehen ein deutliches Aufwärtspotenzial bis über 2500 Dollar pro Unze. Denn der Dollar, ein Kernfaktor für den Goldpreis, dürfte nochmals schwächer werden, 85 oder sogar 80 Rappen gegenüber dem Franken. Und die Realrendite dürfte weiter negativ bleiben.

Ein guter Zeitpunkt, um Gold zu kaufen oder sogar in Goldminenaktien zu investieren?

Absolut. Bezüglich Aktien sind die ETF (Exchange Traded Funds) "VanEck Vectors Gold Miners UCITS" oder "VanEck Vectors Junior Gold Miners UCITS" die bevorzugte Wahl. Bezüglich Einzeltitel sind Barrick Gold oder Kinross Gold mit tiefen Kurs-Gewinn-Verhältnissen attraktiv. Die Unternehmen haben ihre Bilanzen und ihre Kostenbasis im Griff. Jeglicher Effekt beim Goldpreis hat einen Einfluss auf den Gewinn.

Mario Geniale ist als Chief Investment Officer verantwortlich für die Anlagepolitik der Bank CIC. Der diplomierte Vermögensverwalter und Finanzexperte verfügt über langjährige Erfahrung im Portfolio Management und Advisory.

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