cash.ch: Im Oktober reden die Märkte normalerweise gern über eine Jahresend-Rally. Darf man dieses Jahr überhaupt an so etwas denken?
Mario Geniale: Zwar weht makroökonomisch ein starker Wind, denn die Inflation, angefacht durch Schwierigkeiten am Beschaffungsmarkt und der Energiekrise, bremst den Konsum. Von Seiten des Sentiments, sprich der Marktstimmung unter den Investoren zeigt sich eine Extremsituation der Positionierungen auf, die eine Bärenmarktrally in den Herbstmonaten rechtfertigt.
Indices, darunter der SMI, sind nahe an ihren Jahres-Tiefstständen. Die Märkte schwanken zwischen Erholung und neuen Kursrückgängen. Was ist bei Aktien Ihrer Einschätzung nach eingepreist, was nicht?
Der erwartete Wendepunkt der US-Fed Funds - Leitzinssatz - ist aktuell bei 4,6 Prozent im März des kommenden Jahres. Das verdeutlichen die Zins-Futures am Terminmarkt. Das tangiert die Gewinnerwartungen der Unternehmen, die Ende dieser Woche beginnen ihre Quartalsergebnisse zu präsentieren. Weil sich die Notenbankpolitik stark an den robusten Arbeitsmarkt orientiert, läuft sie Gefahr, eine Rezession für das kommende Jahr herbeizuführen, denn der Arbeitsmarkt reagiert träge und die harschen Zinserhöhungen könnten einen gravierenderen Effekt auf die Wirtschaft haben, als auf die Inflation.
Für wie wahrscheinlich halten Sie eine Rezession?
Aktuell notiert die Wahrscheinlichkeit einer Rezession in den USA bei 50 Prozent. Der Markt könnte eventuell noch nicht eingepreist haben, dass die Inflationsbekämpfung zu längerfristigen Wachstumsproblemen führen könnte.
Analysten und Strategen an der Wall Street erwarten eine schwache Bilanzsaison der US-Unternehmen. Teilen Sie diesen Pessimismus?
Die Unternehmen werden auf Lieferengpässe und hohe Produktionskosten hinweisen und Schätzungen fürs Gesamtjahr senken. Internationale Unternehmen ziehen den starken Dollar heran um Nachfrageschwund und Umsatzrückgange in den Lokalwährungen zu begründen. Analysten passen ihre Gewinnaussichten an, die dann neben den steigenden Zinsen noch Gegenwind von der operativen Lage der Unternehmen erhalten. Ein Stellenabbau in der Privatwirtschaft ist die Konsequenz. Der Aktienmarkt ist im Prozess, diese Entwicklung zu antizipieren und stellt sich auf weitere schwache Daten ein.
Was erwarten Sie von den Zahlenvorlagen der börsenkotierten Unternehmen in der Schweiz, die gerade angelaufen ist?
Es präsentiert sich ein sehr heterogenes Bild. Jede Firma ist unterschiedlich von den steigenden Inputkosten und den Wechselkursänderungen betroffen. Die Umsatzschätzungen sollten aufgrund des nach wie vor hohen Auftragbestandes erreichbar sein, die Gewinnmarge dürfte jedoch generell gelitten haben. Der Fokus richtet sich während der Gewinnsaison auf den Auftragseingang und den Ausblick der Unternehmen. Die Ankündigung erster Kostensenkungsprogramme würde vor diesem Hintergrund nicht überraschen. Anfällig für Gewinnenttäuschungen sind in erster Linie die kleineren und mittleren Firmen, welche über nur bedingte Preissetzungsmacht verfügen.
Als die Halbjahres- und Zweitquartalszahlen im Sommer vorgestellt wurden, hatte der Euro zum Franken die Parität erreicht. Nun bewegt sich der Euro bei 0,97 Franken. Wie stark bewegt dies die börsenkotierten Schweizer Firmen und den Aktienmarkt?
Mit dem Rückgang seit dem Sommer erreicht die Performance des Währungspaares Euro-Franken knapp -7 Prozent seit Jahresbeginn, nach -4 Prozent im vergangenen Jahr. Dies hat vor allem Einfluss auf die Werte aus der zweiten Reihe, da die grossen internationalen Schweizer Unternehmen hauptsächliche im Dollarraum exponiert sind. Dies ist einer der Gründe weshalb der von defensiven Titeln dominierte Blue Chip Index SMI mit 18,5 Prozent im Minus deutlich besser abschnitt als der Schweizer Mid Cap Index SMIM mit 31,8 Prozent im Minus.
Wie soll man sich als Schweizer Anlegerin oder Anleger im Moment positionieren?
Man sollte die gegenwärtige Börsenbaisse aussitzen und jetzt keinesfalls verkaufen. Aktuell ist ein hervorragender Zeitpunkt für einen Portfoliocheck. Überprüft werden sollte die Bilanz, das Management, die Marktpositionierung und die mittelfristigen Aussichten.
In der allgemeinen Marktunsicherheit orientieren sich viele in Richtung defensiver Aktien und Dividendentitel. Halten Sie dies für einen guten Plan?
Dies erachten wir als schlechten Plan. Defensive Aktien sind meist relativ hoch bewertet und viele Dividendentitel weisen nur beschränkte Wachstumsaussichten auf. Wir empfehlen einen ausgewogenen Branchenmix, denn es finden sich in allen Sektoren Qualitätstitel mit vernünftigen Bewertungen.
Krisenaktie Nummer Eins am Schweizer Markt ist die Credit Suisse. Was sind Ihre Erwartungen bezüglich einer Kapitalerhöhung?
Wahrscheinlich ist eine Kombination aus einer Kapitalerhöhung und dem Verkauf von Teilbereichen, zum Beispiel ein Teilbörsengang der Credit Suisse Schweiz zur Stärkung der Kapitalbasis. Anlässlich der Präsentation der Quartalsresultate am 27. Oktober 2022 muss das Management endlich eine glaubhafte Strategie präsentieren. Die Umsetzung muss sofort in Angriff genommen werden, damit Credit Suisse nicht weitere Schlüsselmitarbeiter und damit Kunden verliert.
Und wie sollen sich Anlegerinnen und Anleger zur Aktie verhalten?
Credit-Suisse-Aktien würden wir aktuell nicht kaufen. Eine Restrukturierung, wie auch immer sie ausfällt, kostet in erster Linie einmal Geld, bindet wichtige Managementkapazitäten und benötigt Zeit. Über einen langen Zeitraum hat man zudem mit Grossbankaktien in Europa kein Geld verdient. Es sieht nicht so aus, als ob sich dies mittelfristig ändert.
Im Juli empfahlen Sie im Gespräch mit cash.ch zum einen wieder vermehrt Unternehmensanleihen, aber auch Aktien wie Partners Group, ABB, Sika, Logitech oder AMS oder den Genussschein von Roche. Kritisch sahen Sie wegen der hohen Bewertung Nestlé. Halten Sie an diesen Empfehlungen fest?
Wir halten grundsätzlich an diesen Empfehlungen fest. ABB, Sika und Roche sind auf Kurs. Nestlé dürfte aufgrund der Wirtschaftsabschwächung unter Margendruck leiden und ist mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 22 immer noch sehr hoch bewertet. Technologiewerte leiden weltweit stark unter den gestiegenen Zinsen, sowohl Logitech als auch AMS sind stark überverkauft. Logitech muss am 25. Oktober anlässlich der Präsentation der Quartalszahlen zeigen, ob das Unternehmen tatsächlich signifikant höher bewertet sein soll, wie der CEO Bracken Darell kürzlich darlegte. Am 2. November berichtet dann AMS über die Fortschritte beim Schuldenabbau.
Welche anderen Aktien halten Sie derzeit für absolut kaufenswert?
Givaudan hat diese Woche Umsatzzahlen präsentiert, die mit 5,8 Prozent über den Mittelfristzielen von 4 bis 5 Prozent liegen. Dennoch wurden die Schätzungen des Marktes nicht erreicht und die Aktien gaben stark ab. Sie notieren mit einem Jahresverlust von 40 Prozent weit unter der Marktperformance des SMI. Solides Geschäft und Preissetzungsmacht sprechen für die Aktie.
Wo sollte man besser von einem Kauf absehen?
Bei nicht profitablen oder stark verschuldeten Unternehmen ist Zurückhaltung angezeigt. Zudem sind wir gegenüber Engagements in den Emerging Markets vorsichtig. Der starke Dollar und die steigenden Zinsen sind Gift für die vielfach stark im Dollar verschuldeten Entwicklungsländer. Die kräftige Wirtschaftsabschwächung in China belastet den gesamten asiatischen Raum und die hohen Inflationsraten von 80 Prozent in Argentinien und der Türkei könnten zu Staatsbankrotten führen.
Mario Geniale ist als Chief Investment Officer verantwortlich für die Anlagepolitik der Bank CIC. Der diplomierte Vermögensverwalter und Finanzexperte verfügt über langjährige Erfahrung im Portfolio Management und Advisory.
Das Interview wurde schriftlich geführt.