Herr Flückiger, Die Corona-Krise führt zu einer Berg-und-Talfahrt an den Börsen. Wie präsentiert sich die Lage aktuell?
Renato Flückiger: Anlegerinnen und Anleger sind in den letzten Wochen regelrecht vom Coronaschock überrollt worden. Und sie bleiben einer noch nie da gewesenen Volatilität über alle Anlageklassen ausgesetzt. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Entwicklung der Neuinfizierungen, dem Umfang der gesprochenen geldpolitischen Finanzspitzen und den staatlichen Hilfspaketen. Die durch die "Lockdowns" gesprochenen Stillstände unterscheiden sich somit deutlich von vergangenen Rezessionen. Dies macht es schwierig, Vergleiche zu früheren Konjunkturkrisen zu finden sowie entsprechende Lehren daraus zu ziehen. Genau diese Situation führt zu der aktuell enormen Unsicherheit an den Finanzmärkten.
Wie wird sich die Schweizer Börse kurzfristig entwickeln?
Angesichts der ausserordentlichen Lage schwanken die Kurse an den globalen Aktienmärkten extrem. Dabei konnte sich die Schweizer Börse aufgrund ihres defensiven Charakters relativ gut halten. Ich gehe weiterhin davon aus, dass die Volatilität über alle Anlageklassen sehr hoch bleiben wird. Genau in solchen Situationen ist es wichtig, die langfristige Anlageperspektive nicht aus den Augen zu verlieren. Die aktuelle Aktienmarktkorrektur bietet deshalb auch Chancen und kann bei hohen Liquiditätsbeständen für Zukäufe genutzt werden. Konkret erwähne ich in der Schweiz Unternehmen wie Nestlé, Novartis, Roche, Straumann oder Vifor Pharma. Diese Firmen dürften von der Corona-Krise nicht so stark betroffen sein.
Wo steht der SMI in zwölf Monaten?
Damit es zu einer nachhaltigen Entspannung an den Aktienmärkten kommen kann, benötigt es eine abflachende Ansteckungskurve in Europa und den USA, was derzeit nicht absehbar ist. Unter den Annahmen, dass die einschneidenden Massnahmen gegen die Pandemie greifen werden und die Zentralbanken noch expansiver werden, sehe ich für den SMI ausgehend vom aktuellen Niveau einen Anstieg von etwa 12 Prozent möglich. Das würde einem Stand um die 10’000 Punkte entsprechen.
Welche Auswirkungen hat der Coronavirus auf die Schweizer Konjunktur?
Die Massnahmen zur Bekämpfung der Coronakrise werden die Schweizer Wirtschaft in diesem Jahr stark belasten. Für die Schweiz ist aktuell mit einem heftigen Konjunktureinbruch zu rechnen. Wir erwarten, dass das Wirtschaftswachstum für einige wenige Quartale deutlich negativ ausfallen wird – jedoch zeitlich beschränkt. Dank der Soforthilfe des Bundes und der geldpolitischen Unterstützung der SNB sollte ein langanhaltendes Rezessionsszenario jedoch vermieden werden können. Für das Gesamtjahr 2020 rechnen wir in unserem Basisszenario für die Schweiz mit einem wirtschaftlichen Rückgang von 3 Prozent, gefolgt von einer kräftigen Erholung im 2021.
Zeitweise wurde die klassische Diversifikation unter den Anlageklassen regelrecht ausser Kraft gesetzt. Wie kam es dazu?
Befeuert wurden die bereits massiven Kursbewegungen durch das heftige Deleveraging, das heisst den Abbau von kreditfinanzierten Positionen aufgrund des viel zu billigen Geldes. Bei diesen sogenannten «fire-sales» kam es zu einer Welle von Illiquidität und enormen Preisverzerrungen. Selbst solide Unternehmensanleihen, Gold und die Schweizer Immobilienfonds standen unter massivem Verkaufsdruck. Ich erwarte jedoch, dass sich die Preisfindung in naher Zukunft wieder normalisiert.
Welche drei Schweizer Branchen leiden am stärksten unter der Corona-Krise. Und welche drei halten sich gut oder profitieren gar?
Die zyklischen Branchen leiden zurzeit am meisten unter der Corona-Krise: zyklische Konsumgüter, Basismaterialien und Industrie. Dagegen sind die defensiven Sektoren wie Telekom, Versorger und Gesundheit am wenigsten betroffen. Der Gesundheitssektor könnte möglicherweise langfristig sogar profitieren. Zahlreiche Staaten werden die Investitionen in diesem Segment künftig erhöhen, um sich besser für die nächste Krise vorzubereiten.
Öl ist so günstig wie seit 2002 nicht mehr. Wie lange wird die Talfahrt des Ölpreises anhalten?
Die Nachfrage nach Ölprodukten hat aufgrund der Coronakrise massiv abgenommen. Trotz dieser Nachfrageschwäche hält der Preiskrieg zwischen den grossen Ölproduzenten an, und die Ölförderung wird beispielsweise von Saudi Arabien stark erhöht. Zudem unterbieten sich die grossen Erdölproduzenten mit Sonderangeboten, was zu einen Preiszerfall von 60% seit Jahresanfang führte. Solange keine Einigung in Sicht ist, dürfte sich der Ölpreis kurzfristig nicht markant erholen. Langfristig hilft dem Ölpreis nur eine nachhaltige Marktbereinigung von Überkapazitäten, die bereits jetzt anläuft.
Die Coronakrise wird viele Wirtschaftsbereiche grundlegend verändern. Könnte die Pandemie beispielsweise Bezahl-Apps wie Apple Pay, Google Pay und Twint in der Schweiz zum Durchbruch verhelfen?
Das Bezahlen mit dem Handy ist in der aktuellen Situation sinnvoll, da die Berührung von Tastaturen und Bargeld vermieden wird. Bargeldloses Bezahlen empfehlen übrigens nicht nur die Detailhändler sondern auch die Weltgesundheitsorganisation WHO. Daher gehe ich davon aus, dass dies die Akzeptanz des innovativen Bezahlens effektiv beschleunigen wird. Oder anders gesagt, wenn der Durchbruch der Bezahl-Apps nicht jetzt kommt, wann dann?
Sehen Sie andere wichtige Trends, die als Folge der Coronakrise an Fahrt gewinnen?
Erstens, der Online Einkauf: Zahlreiche Online-Einzelhändler generieren aktuell Umsätze wie im Weihnachtsgeschäft. Vermehrt nutzen auch kritisch eingestellte Konsumenten den Online-Kanal, beispielsweise auch für Lebensmittel oder Medikamente. Ein positives Erlebnis mit diesen Kanälen könnte viele dieser Konsumenten zu langfristigen Kundinnen und Kunden werden lassen und den Marktanteil der Online-Händler spürbar erhöhen. Zweites, die Streamingdienste und Telekomunikation: Ob Musik, Games, News-Sendungen, Kino, Serien oder Fernausbildung und Podcasts. Anbieter aus diesen Bereichen werden die grossen Profiteure der Krise sein. Die Hersteller und Betreiber der dazu notwendigen Infrastruktur natürlich auch. Und drittens: Eine längerfristige Repatriierung von Wertschöpfungsketten zurück in die Schweiz. Das Bedürfnis nach weniger internationaler Abhängigkeit und grösserer Liefersicherheit wird stärker werden. Auch wenn dies möglicherweise mit etwas höheren Kosten verbunden wird. Hier hat der Werkplatz Schweiz eine gute Chance, sich zu etablieren.
Schon vor Beginn der Corona-Krise waren viele Staaten und Unternehmen hoch verschuldet. Nun schwelt dieser Schuldenberg weiter an. Was für langfristige Folgen wird diese Verschuldung für die globale Wirtschaft haben?
In der Tat werden die Haushaltsdefizite im laufenden Jahr in fast sämtlichen Staaten regelrecht explodieren. Viele der schon heute sehr stark verschuldeten Staaten werden ein Haushaltsdefizit von mehr als 10 Prozent des BIP ausweisen. Unter normalen Umständen würde in so einer Situation die Risikoprämie, respektive der Zinssatz für die Geldaufnahme am Kapitalmarkt, markant ansteigen. Dies hat sich ja beispielsweise in Italien angedeutet. Um diesen für die betroffenen Staaten sehr gefährlichen Umstand entgegenzutreten, kaufen die Zentralbanken die Staatsanleihen auf und halten so den Zinssatz künstlich tief. Langfristig gesehen wird das globale Potenzialwachstum nach unten revidiert werden müssen.
Dieses Interview erschien zuerst auf handelszeitung.ch unter dem Titel: "Wenn der Durchbruch der Bezahl-Apps nicht jetzt kommt, wann dann?"