Ein kräftiges, reinigendes Gewitter oder eine gesunde Kurskorrektur nach der fulminanten Rally der letzten sechs Monate ist an den US-Aktienmärkten bisher ausgeblieben. Zwar fiel der US-Leitindex S&P 500 am vergangenen Donnerstag zwischenzeitlich um bis zu zwei Prozent zurück. Analysten und Strategen warnten allerdings schon seit mehreren Wochen vor einer Korrektur in der Grössenordnung von fünf bis zehn Prozent. 

Dies ist umso erstaunlicher, weil die (geringer als erwartet ausfallenden) Leitzinssenkungen durch die amerikanische Notenbank Fed zunehmend ausgepreist werden und die Renditen für US-Staatsanleihen innerhalb von vier Wochen um 10 Prozent auf 4,45 Prozent angezogen haben. Die US-Aktienmärkte zeigen sich darob unbeeindruckt auf hohem Niveau nahe der Rekordhochs. 

Ein wesentlicher Grund für die positive Stimmung am US-Aktienmarkt liegt darin, dass die Rally an Breite gewonnen hat. Die steigenden Kurskurse werden demnach nicht mehr nur von den sieben "magischen" Techaktien Alphabet, Amazon, AppleMeta, Microsoft, Nvidia und Tesla getragen. Jetzt ist es ein Grossteil der anderen 493 Aktien im S&P 500 Index, welche für die Kursgewinne verantwortlich sind. 

Der US-Aktienstratege Manish Kabra von Société Générale ist als einer der zuversichtlichsten "Bullen" von einer Fortsetzung der Rally überzeugt. Die makroökonomischen Themen verbessern sich in den USA weiter: Erstens die Reshoring-Aktivitäten, zweitens der Boom bei der künstlichen Intelligenz im Nasdaq 100 Index und drittens die sich verbessernden Kreditbedingungen und Kreditvergabestandards. Dies veranlasst die SG-Strategen allen voran, die US-Finanzwerte zum ersten Mal seit Dezember 2021 heraufzustufen.

Trotz weit verbreitetem Marktoptimismus hält Kabra die aktuelle Rally für rational und nicht für übertrieben, da das Gewinnwachstum weiter zunimmt und neue Rekorde für den S&P 500 Index erreicht werden. «Wir stellen fest, dass zwei unterschiedliche Gewinnzyklen nebeneinander bestehen: der eine wird von Large-Cap-Nasdaq-100-Wachstumsaktien angetrieben, die im vergangenen Jahr einen Gewinnanstieg von 25 Prozent verzeichneten, und der andere von den S&P-500-Aktien.»

Deutliche Anhebung beim Gewinnwachstum

Ohne den Nasdaq 100 verzeichneten die US-Unternehmen im letzten Jahr einen Gewinnrückgang von 7 Prozent, so die Schätzung. Angesichts des optimistischen makroökonomischen Ausblicks für die USA heben die SG-Analysten nun das Wachstum beim Gewinn pro Aktie, das bisher zwischen 5 Prozent (2024) und 15 Prozent (2025) prognostiziert wurde, auf 12 Prozent (2024) respektive 11 Prozent (2025) angepasst. Im Jahr 2024 sollte ein durchschnittlicher Gewinn je Aktie des S&P 500 demnach bei 243 Dollar zu stehen kommen und 270 Dollar im Jahr 2025.

Das verbesserte Gewinnwachstum veranlasst den SG-Experten auch zu einem neuen, höheren Zielniveau des S&P 500 bei 5'500 Punkten. Das impliziert ein Kurspotenzial von sechs Prozent, nachdem der S&P 500 Index seit Jahresbeginn bereits um acht Prozent gestiegen ist. Seit dem Höchststand der Anleiherenditen von fünf Prozent im Oktober 2023 beträgt der Kurszuwachs gar 30 Prozent. Es sei deshalb unwahrscheinlich, dass solch starke Zuwächse kurzfristig erreicht werden können, da die aktuelle Neubewertung der Bewertung bereits Zinssenkungen der Fed widerspiegelt. Es kann jedoch sein, dass die Fed die Zinsen erst dann senkt, wenn sich das Gewinnwachstum zu verlangsamen beginnt - allerdings ist das für die SG-Strategen 2024 kein Szenario. 

Das grösste Abwärtsrisiko an US-Aktienmärkten besteht darin, dass die Fed erneut über Zinserhöhungen spricht. «Wir glauben, dass es eher ein Phänomen im Jahr 2025 als im Jahr 2024 sein könnte, insbesondere wenn sich die Inflationsanzeichen verstärken und die Gewinne immer noch boomen», so der SG-Experte. Für das zweite Quartal bestehen die legitimen Abwärtsrisiken in der Inflation und den Marktzinsen.

Mehr Aufwärts- als Abwärtspotenzial

Die Risikoprämie für US-Aktien ist gemäss Analyse von Société Générale unterdurchschnittlich, aber nicht übertrieben. Die Beschleunigung des Gewinnzyklus deutet darauf hin, dass die Risikoprämie in der Nähe von 300 Basispunkten bleiben kann. Wenn zu diesem Zeitpunkt die Renditen 10-jähriger US-Staatsanleihen bei oder unter 4 Prozent steht, könne der S&P 500 sogar 6'400 Punkte erreichen. Das entspricht einem Aufwärtspotenzial von 23 Prozent. 

Sollte die US-Wirtschaft dagegen noch stärker an Fahrt gewinnen und die Renditen 10-jähriger US-Staatsanleihen wegen Überhitzungserscheinungen auf fünf Prozent steigen, so würde dies zu einer deutlicheren Korrektur führen und den S&P 500 auf einen Stand von 4'600 Punkten zurückwerfen. Das entspricht einem Abwärtspotenzial von etwas mehr als 10 Prozent. 

Thomas Daniel Marti
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