Seit gut zwei Wochen bommen einzelne Aktien, auf die kein Profi sein Pulver gesetzt hätte: Gamestop, Blackberry, AMC Entertainment, Nokia, Bed, Bath & Beyond. Es sind dies nicht etwa Tech- oder Zukunftsfirmen, sondern eher Unternehmen mit einer gewissen Vergangenheit. Die Aktien haben einen tiefen Kurs- beziehungsweise Nennwert. Es gibt grosse Short-Positionen.

Vor allem wird die Nachfrage angetrieben von Kleinstaktionären, die sich via Social-Media-Austauschformaten wie Reddit Wallstreetbets und Twitter gegenseitig bestärken. Danach werden die Titel auf Online-Tradingplattformen wie Robinhood gehandelt, und zwar massiv.

Wie dramatisch ist das?

Sehr. Am deutlichsten schlug das Phänomen bei Gamestop ein: Die Aktie sprang seit Jahresbeginn um über 700 Prozent nach oben. Die Detailhandelskette für Computerspiele wurde schliesslich mit über 10 Milliarden Dollar bewertet – höher als diverse viel grössere S&P-Konzerne (Stand 27. Januar, Vormittag MEZ).

Welche Firmen kommen da ins Visier?

Es ist rätselhaft. Einen Trigger bilden offenbar traditionelle Hersteller, um die sich auf Reddit Interessenten scharen – Musterbeispiele sind Nokia und Blackberry, zwei legendäre Marken früherer Zeiten.

Etwas speziell ist der Fall von Gamestop: Hier wurde der Run ausgelöst durch die Warnung von Citron Research, einer auf Short-Chancen spezialisierten Analysefirma. Reddit-Nutzer konterten die entsprechende Verkaufsempfehlung mit dem Kauf von Gamestop-Aktien, was wiederum andere Investoren mit Short-Postionen zwang, die Papiere schleunigst nachzukaufen – ein klassischer "Short Squeeze" enstand. Womit die Stampede vollends ausgelöst wurde.

Stichwort «Robin Hood»: Wird hier auch das Finanz-Establishment attackiert?

Begrenzt. Short-Selling-Analysten gehören ja auch nicht unbedingt zum Hochadel der Wallstreet. Allerdings treiben die Socialmedia-Trader nun Aktien nach oben, vor denen klassische Bank-Analysten ebenfalls warnen – so dass deren Prognosen dadurch ebenfalls "verfälscht" werden. Vor allem: Die Tagesumsätze des «Herdenphänomens» erreichen mittlerweile den zweistelligen Milliardenbereich; die Gamestop-Aktie wurde an diesem Dienstag beispielsweise reger gehandelt als Tesla.

Die entscheidende Frage ist also, ob sich so etwas auf die Länge und in der Breite halten lässt – ob also solche "Kleinaktionärs–Stampeden" zum Dauerphänomen werden. 

Und? Ist die Erscheinung nachhaltig?

Beides ist denkbar. Möglich wäre, dass wir es mit einem Phänomen zu tun haben wie seinerzeit die "Flash Mobs" – wo irgendwelche Leute in irgendwelchen Bahnhofshallen plötzlich ein Liedchen zu singen begannen. Das kam ums Jahr 2012 auf und war bald wieder weg.

Denkbar aber auch, dass zumindest das Shortselling durch die Robinhood-Gefahr etwas zurückgedrängt wird (schliesslich sind die Risiken nun grösser geworden); und dass sich am Ende sogar die spezialisierte Sub-Branche der Short-Selling-Analysefirmen spürbar verkleinert

Und was ist jetzt wahrscheinlicher?

Eine These dazu: Vieles wird verschwinden – ein bisschen bleibt. John Plassard, Aktienstratege bei Mirabaud, erinnert daran, dass das Börsentrading momentan in einer Ausnahmesituation steckt: Viele Menschen im Lockdown lenken sich mit "Börseleien" ab; deshalb konnten die entsprechenden Trading-Plattformen im letzten Jahr massiv wachsen. Diese Basis wird aber auch wieder verschwinden.

Andererseits: Plattformen wie Reddit und Twitter bieten nun eine Infrastruktur, auf der sich Aktionärs-Meinungen rasch bündeln lassen. Das kann man nicht länger ignorieren. Die einschlägige Debattenseite "Wallstreetbets" auf Reddit hat schon über 2 Millionen User: Wenn hier Bewegung reinkommt, spürt das auch die Wall Street. Und Robinhood hat rund 13 Millionen Nutzer.

Das Narrativ, dass sich hier eine "Disruption" der Finanz-Szene abzeichnet – ähnlich Social Media im Medienbereich oder der "Uberisierung" im Transportwesen – hat denn auch seine Anhänger.

Kleinaktionäre gab es doch schon immer.

Ja, aber nun kommt ein neuer, dynamischer Zug hinzu. Die Profis haben dazu bereits eine Abkürzung: NDT. Das kommt von "New Day Traders". Im Gegensatz zu den klassischen Kleinanlegern handeln die NDT mit hohem Tempo – sie hoffen auf Tagesgewinne, nicht auf eine schöne Rendite im Jahresverlauf.

Ist das Ganze nicht einfach ein Ausdruck einer Blase?

Denkbar. Dann hätten wir es sogar mit einem altbekanntes Ereignis in neuem Gewand zu tun: Im 20. Jahrhundert sprachen die Börsianer ja von "Dienstmädchenhausse", wenn am Ende einer Aufschwungphase plötzlich viele Kleinanleger einstiegen (und dann im Crash ihre Ersparnisse verloren).

Wenn eine Blase in ihre Endphase kommt – so hat der Ökonom Hyman Minsky erforscht –, dann beginnen zwei Denkweisen die Finanzmärkte zu prägen: Erstens FOMO, abgekürzt für "Fear of Missing Out". Man stürzt sich in den Markt, weil man nicht länger tatenlos zusehen mag, wie andere rasch Geld verdienen. Zweitens: die "Greater Fool"-Attitüde. Man kauft ein Papier nun nicht etwa, weil man seinen Wert als gut und solide einschätzt, sondern bloss noch mit der Absicht, bald einen Käufer zu finden, der noch mehr bezahlt.

Da haben wir doch den Beweis: Die Börsenblase ist in den letzten Zügen!

Wenn es nur so einfach wäre… Zu den berühmten Sprüchen an den Finanzmärkten gehört auch: "This time is different". Am Ende eines Booms glauben viele Anleger, man sei in eine neue Ära eingetreten – und die alten Wirtschaftsregeln seien inzwischen ausser Kraft gesetzt.

Deshalb könne es noch jahrelang so weitergehen. Und deshalb wiederum werden gewisse "Verrücktheiten" nun nicht automatisch als Warnsignale gesehen.

Der "This time is different"-Glaube trägt vielmehr dazu bei, dass der Boom sich noch länger hält – was wiederum die FOMO (siehe oben) weckt.

Die aktuelle "This time is different"-Idee baut darauf, dass die Negativzinsen und die enormen Notenbankmengen historisch einmalig sind – und dass die Staaten diesen Zustand noch lange aufrecht erhalten werden.

NDT, Reddit, Robinhood – sind das nicht einfach typische US-Phänomene?

Schon – aber nicht nur. Der Gamestop-Vorgang schwappte direkt nach Europa herüber. So schlägt der Run auf diese Aktie auf Tradegate durch, eine deutschen Plattform für Privatkleinanleger: Auch dort wollen jetzt Tausende durch einem raschen Deal mit dem Computerspielhändler aus Texas schnell Kasse machen.

Also kann auch eine Schweizer Firma ins Visier kommen?

Schwierig. Allgemein mangelt es in Europa noch an Online-Plattformen, wo man gratis hin- und hertraden kann. Folglich ist auch das entsprechende Publikum klein. Anders gesagt: Die "Herde" hat hier weniger Wucht, um solche Börsensprünge auszulösen.

Ausserdem gibt es nicht allzuviele Börsentitel, die ins "Beuteschema" passen – bekannter Name, etwas aus der Mode geraten, tiefer Kurs- respektive Nennwert.

Am ehesten fällt einem da noch Kudelski ein, an dessen Nagra-Tonbänder manch einer noch liebevoll erinnert (Preis einer Aktie: gut 4 Franken).

Dieser Artikel erschien zuerst auf handelzeitung.ch unter dem Titel: «Was ist da los? 10 Antworten zum Gamestop-Phänomen».