Herr Geniale, wie stark beschäftigt die Corona-Krise die Finanzmärkte noch?

Mario Geniale: An den Märkten wird wie immer die Zukunft gehandelt und Investoren sind bereit, ein Ende der Corona-Pandemie in ihren Handelsentscheidungen mit zu berücksichtigen. Themen wie die hohe Inflation in den USA und die bevorstehende Berichterstattungssaison rücken nun in den Fokus der Anleger. Man darf jedoch nicht vergessen, dass zum Beispiel ein erneuter Lockdown in China verheerende Auswirkungen auf die hocheffiziente globale Produktion und damit auf die Gewinnentwicklung der Firmen haben kann. Das könnte die Aktienmärkte nochmals unter Druck bringen.

Wie wird sich die Schweizer Börse kurzfristig entwickeln? 

Das Potenzial ist aktuell ausgereizt. Mit der Veröffentlichung der Unternehmensergebnisse muss der eine oder andere Brocken verdaut werden. Die Börsenlieblinge aus dem vergangenen Jahr, wir zählen dazu Straumann oder Partners Group, müssen die angepassten Zinserwartungen erstmal verkraften. Wir gehen von einem Seitwärtsmarkt mit Test der 12'100-12'200-Region aus. 

Wo steht der SMI in zwölf Monaten? 

Eine Straffung der US-Geldpolitik begünstigt Unternehmen mit Preissetzungsmacht und robuster Bilanz. Die drei grossen SMI-Titel Nestlé, Novartis und Roche sind sehr gut aufgestellt. Ihre hohe Gewichtung sollte den SMI über das Jahr im Fall grösserer Rücksetzer stabilisieren. Bei den Unternehmen in der zweiten Reihe wie Zurich Insurance, UBS, ABB und Sika sehen wir bei der aktuellen Sektorrotation in wertorientierte Unternehmen einen weiteren Anker. Zum Jahresende können wir uns einen SMI bei 13'300 bis 13'600 Punkten vorstellen.

Roche oder Novartis – welcher der beiden Pharma-Titel gefällt Ihnen aktuell besser?

Mir gefällt aktuell eindeutig Novartis besser. Die Aktie weist gegenüber Roche nicht nur eine deutlich tiefere Bewertung auf, sondern mit 3,5 Prozent auch eine um einen Drittel höhere Dividendenrendite. Desweiteren wird die Produktepipeline massiv unterschätzt. Bis 2026 sollen gemäss Firmenangaben mehr als 20 Produkte mit einem Marktpotenzial von über einer Milliarde Franken auf den Markt gebracht werden. Zudem wird in diesem Jahr wahrscheinlich noch die Generikadivision Sandoz verkauft, was gemäss Analystenschätzungen bis zu 25 Milliarden Franken in die Kasse spülen soll. Novartis muss rasch seinen Börsenwert erhöhen, um nicht mehr als attraktiver Übernahmekandidat zu gelten.

Wie lauten Ihre drei Schweizer Aktientipps für dieses Jahr? Und welche drei ausländischen Titel empfehlen Sie?

In der Schweiz favorisieren wir neben Novartis unter anderem ABB wegend des bevorstehendes IPO der EV-Ladestationen, der fortschreitende Fokussierung auf das Kerngeschäft und der Wachstumsbeschleunigung). Deweitern Logitech. Der Home-Office-Trend wird anhalten und Gaming weiter überdurchschnittlich wachsen. Überdies favorisieren wir AMS: Massive Unterbewertung, die Fusion mit Osram wird einen starken Markführer im Bereich optische Lösungen schaffen, weitere Devestitionen, und ein schneller Abbau der Verschuldung. Im Ausland setzen wir auf Adidas: Da sehen wir Aufholpotenzial nach einer Performance 2021 von minus 15 Prozent.). Wir setzen auch auf Philips. Der Rückruf von Beatmungsgeräten in den USA lastet zu schwer auf dem Aktienkurs und ist stark übertrieben. Nach einer Performance 2021 von minus 25 Prozent in diesem Jahr bereits schon wieder minus 12 Prozent. Überdies favorisieren wir Amazon mit starkem Wachstum voraus in den beiden Bereichen Onlinehandel und Cloudgeschäft und der Kursstagnation im letzten Jahr.

Apple ist neu über drei Billionen Dollar wert, auch die Bewertung der anderen grossen US-Tech-Titel erreicht neue Rekorde. Wird sich diese Aufwertung von Big Tech fortsetzen?

Ja, die Marktkapitalisierung der Big-Tech-Unternehmen wird weiter steigen. Die Digitalisierung ist ein langfristiger Megatrend, der erst am Anfang steht. Das einzige, was den weiteren Anstieg der Börsenwerte stoppen könnte, sind mögliche von der Politik angeordnete Zwangsaufteilungen von Unternehmen. Entsprechende Vorstösse sind zum Beispiel bezüglich dem Unternehmen Meta Platforms (ex Facebook) im Gange. Mit einer Zerschlagung von Meta Platforms würde aber wahrscheinlich sogar Wert geschaffen, dieser würde sich dann allerdings auf mehrere neue Unternehmen verteilen. Steigende Zinsen werden den grossen Technologiewerten nicht zusetzen, da ihre Gewinne jetzt anfallen und nicht erst in unbestimmter Zukunft. Big-Tech-Unternehmen sind eher Value- als Growth-Titel. Da die führenden Technologiefirmen meist schuldenfrei sind und über enorme Cash-Bestände verfügen, werden sich ohne ihr Mittun keine neuen Technologietrends etablieren können.

Wie wird sich der Goldpreis entwickeln?

Trotz des Starts der in diesem Jahr zu erwartenden Normalisierung der Geldpolitik bleiben wir für Gold zuversichtlich. Selbst wenn die kurzfristigen US-Geldmarktsätze bis Ende Jahr in vier Schritten auf 1 Prozent erhöht werden, bleiben die Realzinsen, also die Nominalzinsen minus erwartete Inflationsraten, negativ. Gold wird erst unter Druck geraten, wenn die Realzinsen im positiven Bereich notieren und davon sind wir momentan noch ein gutes Stück entfernt. Aufgrund der vielen Unsicherheiten erwarten wir zudem eine erhöhte Volatilität an den Aktienmärkten. Auch dies spricht für einen gut unterstützten Goldpreis. 

Das Interview erschien zuerst bei handelszeitung.ch unter dem Titel: "Roche oder Novartis? 'Mir gefällt Novartis besser'".