"Wenn es zu einem Notfall kommt, haben wir keine andere Wahl, als Russland zu meiden und die Südroute zu fliegen", sagt Yuji Hirako, Chef der japanischen All Nippon Airways. Da die Nachfrage in der Corona-Pandemie sowieso gering sei, würden Langstreckenrouten notfalls gar nicht geflogen.

Erinnerungen an den Kalten Krieg des vergangenen Jahrhunderts werden wach. In der Hochphase der Auseinandersetzungen zwischen dem Sowjetblock und dem Westen mussten Flieger von Europa nach Asien andersrum, westwärts fliegen mit Zwischenlandung zum Auftanken im US-Bundesstaat Alaska - ein kostspieliger Umweg.

Über Russland verlaufen wichtige Luftkorridore zwischen Europa, Nordamerika und Asien. Das macht seinen 26 Millionen Quadratkilometer grossen Luftraum zu einem kritischen Knotenpunkt. Ohne Zugang zu den russischen Luftwegen müssten Experten zufolge Airlines ihre Flüge nach Süden umleiten und dabei die Spannungsgebiete im Nahen Osten umgehen. Für die bereits unter der Pandemie leidende Branche könnte das erheblichen Mehrkosten bedeuten. Vor allem der Frachtverkehr wäre davon betroffen. So bereitet etwa die Luftfracht-Division des US-Paketdienstes FedEx nach eigenen Angaben nicht näher bezeichnete Krisenpläne für den Fall von Überflugbeschränkungen vor.

"Bislang hat Russland nicht damit gedroht, die Überflugrechte zu widerrufen - es weiss aber, dass es damit über eine phänomenale Waffe verfügt", schreibt Elisabeth Braw, Analystin des American Enterprise Institute Think-Tank, im Online-Portal Defense One. Selbst wenn es nicht zu offiziellen Vergeltungsmassnahmen kommt, sind die Auswirkungen auf die Überflüge nach Ansicht von Experten unvorhersehbar. "Jeder einzelne Überflug erfordert eine Vorabgenehmigung, und die wird nicht immer routinemässig erteilt", erklärt Luftfahrtanalyst Robert Mann. Im Ernstfall könnten einige dieser Anfragen einfach unbeantwortet bleiben.

Russlands 8000 Fluglotsen wickelten im vergangenen Jahr 194'296 Überflüge (im Schnitt 532 pro Tag) ab. Das sind nach Angaben der russischen Luftfahrtbehörde 16 Prozent mehr als im Corona-Jahr 2020, aber immer noch 37 Prozent weniger als vor der Pandemie 2019. Russland verdient laut Experten viel an Gebühren für Überflüge. "Unter normalen Umständen wäre das verheerend, aber der Asienverkehr ist viel niedriger als üblich", sagt eine mit der Situation vertraute Person, die an der Erstellung von Szenarien im westlichen Lager beteiligt ist, gegenüber Reuters. Dass der Westen zuerst seinen Luftraum einschränke, sei unwahrscheinlich.

Leasinganbieter befürchten Sanktionen

Auch mögliche Wirtschaftssanktionen des Westens gegen Russland beschäftigten die Luftfahrt, so etwa die Flugzeug-Verleiher. Sanktionen würden die Zahlungen an Leasingfirmen unterbrechen. Für die Branche sei Russland bisher ein relativer Lichtblick gewesen, da die russischen Airlines ihre Zahlungen während der Pandemie weitgehend aufrechterhalten hätten, erklärt Domhnal Slattery, Geschäftsführer der Leasinggesellschaft Avolon. Seine grösste Sorge sei ein möglicher Ausschluss Russlands aus dem Zahlungssystem Swift. Eine solche Massnahme würde den internationalen Zahlungsverkehr stören und somit die Einnahmen der Flugzeug-Vermieter direkt treffen.

Russische Fluggesellschaften haben nach Angaben der Analysefirma Cirium 777 geleaste Passagierflugzeuge im Einsatz. Davon sind zwei Drittel mit einem geschätzten Gesamtmarktwert von etwa zehn Milliarden Dollar von ausländischen Leasingfirmen gemietet. "Wenn es Sanktionen gegen russische Unternehmen gibt, könnte dies mehr als 500 Flugzeuge betreffen," sagt Cirium-Chefberater Rob Morris.

Abschottung der Ukraine

Weniger gravierend wäre es, wenn nur der Luftraum über der Ukraine gesperrt würde. Das träfe vor allem die Verbindungen zwischen dem Land und Europa. Überflüge sind schon seit Beginn des Ukraine-Russland-Konflikts 2014, als der Abschuss eines Jets von Malaysia Airlines durch eine Luftabwehrrakete über der Ostukraine fast 300 Menschen in den Tod riss, auf ein Minimum begrenzt.

Von den europäischen Airlines hat der ungarische Billigflieger Wizz Air das grösste Angebot an Ukraine-Flügen, wie Bernstein Research in einer Analyse schreibt. Diese machten im Flugplan für Juli acht Prozent des gesamten Angebots aus. An zweiter Stelle folgt Ryanair mit einem Anteil von zwei Prozent, die Lufthansa-Gruppe mit 0,7 Prozent an dritter Stelle. Bisher gebe es keine Änderungen im Flugplan, erklärte Wizz am Montag. Im Ernstfall sei nur vorübergehend mit einem Ertragsausfall zu rechnen, erwartet Analyst Alex Irving von Bernstein. Wizz habe praktische Erfahrung mit dem Krisenmanagement. Die Airline musste schon 2014 zum Ausbruch des Krieges im Donbass ihre Basis in Donezk räumen und Flugzeuge wie Crews rasch abziehen. Wizz-Chef Jozsef Varadi habe kürzlich erklärt, notfalls Kapazitäten woanders hin zu verlegen - und zwar "im Handumdrehen".

(Reuters)