cash.ch: Herr Gattiker-Ericsson, der Swiss Market Index (SMI) kommt im neuen Jahr nicht wirklich vom Fleck. Warum diese Konsolidierung?

Christian Gattiker-Ericsson: Es war ein fulminantes Jahresende mit einer kompletten Kehrtwende, was die Zinserwartungen betrifft. Es kam sehr viel Zuversicht an die Märkte zurück. Dies musste man zum Jahresbeginn abarbeiten.

Im Januar kam ein Stimmungsdämpfer?

Ja, es gab einen Dämpfer, was auch gesund ist. Wir sind jetzt bei der Stimmung im neutralen Bereich, was eine weitere Bewegung nach oben offenlässt.

Warum mündet die Konsolidierung nicht in einer Korrektur?

Die Erwartung von sinkenden Zinsen scheint Hand und Fuss zu haben, obwohl sie zurückgeschraubt wurde. Die Angst vor einer scharfen Kreditklemme und von nachhaltig höheren Inflationsraten hat sich abgeschwächt. Es sieht so aus, als würden wir in ein normaleres Fahrwasser zurückkehren.

Sie gehen von einer Normalisierung aus?

Ja, schon im Laufe des letzten Jahres. Aber es war eine extreme Zitterpartie. Die Zinsen am langen Ende hatten sich von der zurückgehenden Inflation abgekoppelt. Das aufkommende Thema war insbesondere in den USA die Staatsverschuldung und die Überversorgung des Marktes für Staatsanleihen. Die Staatsschulden aus den Krisenjahren sind ein Thema, das uns die nächsten Jahre verfolgen wird.

Die Staatsverschuldung in den USA ist auf über 120 Prozent gestiegen. Wann erfolgt der Kippmoment mit negativen Konsequenzen?

Der Kippmoment droht dann, wenn die Kosten, die Schulden nach vorne zu rollen, deutlich und anhaltend höher sind als beim letzten Mal. In diesem Fall steigt der Schuldendienst auf übermässige Niveaus. Die letzte Dekade diente in den USA und Europa dazu, dass die Privathaushalte ihre Schulden aus der Immobilienkrise abbauen konnten. Gleichzeitig musste in den USA und der Eurozone der Staat mit höheren Schulden in die Bresche springen. Jetzt ist die Finanzlage bei den Privaten stabil wie seit Jahrzehnten nicht mehr, bei den Staaten wird es dafür problematisch - in den USA werden bald 8 Prozent vom Staatshaushalt für den Schuldendienst aufgewendet.

Wie kann die Situation entschärft werden?

Der Staat muss die Schulden abbauen, wenn die Privaten wieder schuldfähig sind. Aber es gibt derzeit keine Anzeichen dazu. Die Politik hat sich mit den Krisen daran gewöhnt, alles mit höheren Schulden zu lösen.

Tiefere Zinsen würden auch den Staaten helfen: Was ist Ihre Prognose?

Wir erwarten einen neuen Zinszyklus, der naturgemäss mit Zinssenkungen beginnt. Für die USA und die Eurozone sehen wir je 75 Basispunkte tiefere Zinsen im 2024. In der Schweiz dürfte dagegen das Zinsniveau im laufenden Jahr noch stabil bleiben, da hierzulande die Inflation weniger sprunghaft angestiegen ist, dafür aber etwas hartnäckiger anhält. Das hat die SNB zwar zu einer weniger harten Straffung gezwungen, dafür geht es mit den Zinssenkungen deutlich langsamer. Der letzte Zyklus war wegen seiner Kürze der aussergewöhnlichste in den letzten 50 Jahren. Er könnte daher auf ungewöhnliche Weise zu Ende gehen. 

Wie meinen Sie das?

Es wäre ein Ende des Zinszyklus ohne Rezession. Normalerweise senken Notenbanken die Zinsen erst wieder, wenn die Wirtschaft in einer Krise ist. Jetzt scheint die Rückkehr zur Normalität ohne Unfall möglich.

Die oftmals prognostizierte Rezession in den USA infolge der Inflationsbekämpfung ist ausgeblieben. Was ist bei dieser doch positiven Entwicklung ausschlaggebend gewesen? 

Die USA stecken seit Mitte 2023 in einer Kreditklemme, die Banken haben ihre Kreditvergabe massiv zurück gefahren. Das löst im Normalfall eine Rezession aus. Jetzt hatten wir mehrere Faktoren, die dies ausbalanciert haben: Dank Krisen-Staatshilfen zehren die privaten Haushalte immer noch von stattlichen Barreserven, mit dem ‹Inflation Reduction Act› (IRA) wurde ein riesiges Fiskalprogramm aufgelegt und die privaten Haushalte sind insgesamt in guter Verfassung, was Schuldenlast und Schuldendienst angeht.

Die Gegenwinde nehmen langsam ab…

Im ersten Halbjahr spüren wir den maximalen Gegenwind von allen Zinserhöhungen des letzten Jahres. 2024 wird daher ein mageres Jahr im Sinn von Wachstum, aber die Inflation wird sich entsprechend zurückbilden. In der Schweiz macht sich das mit mickrigen 0,9 Prozent Wachstum bemerkbar. Dagegen haben wir bleibt der Teuerungsabschwung im internationalen Vergleich verhalten mit immerhin noch 1,9 Prozent auf Grund des hohen Anteils administrierter Preise im Schweizer Warenkorb wie den Krankenkassenprämien. Für die Finanzmärkte ist aber insgesamt viel wichtiger, wie viel Erholung 2025 bringen wird.

Inwiefern hilft beim Wachstum der Megatrend bei der Künstlichen Intelligenz?

Dies war und ist sicherlich ein Faktor. Es besteht eine Aufbruchstimmung, und die Flaschenhälse beim Angebot steigern den Wert der neuen Dienstleistung. Wenn es im Dienstleistungssektor eine Industrialisierung auslöst - ähnlich wie der Webstuhl für die Textilindustrie im 18. Jahrhundert -, dann ist es eine höchst deflationäre Technologie. Aufgrund der demographischen Entwicklung darf man aber hoffen, dass es keine Massenarbeitslosigkeit geben wird.

Wie sieht die politische Ausgangslage mit den zahlreichen Wahlen für 2024 aus?

Man wird wohl frühestens im November abschätzen können, wer 2025 in das Weisse Haus einziehen wird. Die starke Fragmentierung der US-Wählerschaft und die mögliche Teilnahme eines dritten oder gar vierten Präsidentschaftskandidaten macht die Ausgangslage extrem unübersichtlich. In solchen Fällen hatten wir in der Vergangenheit auch schon die Wahlergebnisse erst nach Wochen des Hin und Her. 

Wäre eine erneute Trump-Präsidentschaft gut für die Börsen?

Im Gegensatz zur ersten Präsidentschaft sind wir für 2025 hier deutlich skeptischer. Trump zieht zunehmend als Anti-Establishment Kandidat durchs Land, bedroht die rechtsstaatlichen Institutionen und könnte auch sonst die eine oder andere Rechnung aus der letzten Amtszeit begleichen wollen. Das dürfte dann zunehmend für Aufruhr sorgen. Natürlich dürften die US-Börsen unmittelbar sehr positiv reagieren, wenn die Wahl klar ist und ein ‹business-freundlicher› Kandidat das Rennen macht. 2025 käme dann aber die Stunde der Wahrheit. Denn aufgrund der Schuldenlage wäre es erstaunlich, wenn man im gleichen Mass die Steuern weiter senken und unvermindert Geld für den Staat ausgeben könnte.

Was erwarten Sie von der anlaufenden Gewinnsaison? 

Die Daten aus den USA lassen erahnen, dass es eine schwierige Gewinnsaison wird. Die Indikatoren für positive Überraschungen sind sehr verhalten. Die Schweizer Börse tickt dabei etwas anders, denn hierzulande haben sehr zyklische Geschäftsmodelle einen schweren Stand. Die Schweizer Gewinnsaison wird wie üblich von den Einzelfirmen und ihren Spezialsituationen geprägt. Das übergeordnete Thema ist vor allem, wie stark der starke Schweizer Franken die Gewinne belastet. Die Währungseinflüsse sind erfahrungsgemäss sehr schwer zu modellieren und sorgen oft für die grössten Abweichungen. 

Schweizer Anleger sollten nicht zu viel erwarten…

Man wird die Gewinnsaison vermutlich abhaken und dann nach vorne schauen. Die Dividende und der Ausblick sind wichtiger.

Was bedeutet diese Ausgangslage für die Marktentwicklung der kommenden Monate?

Oft geht auf den letzten Metern vor den ersten Zinssenkungen noch etwas schief, daher stehen Qualität und Wachstum weiter im Vordergrund. Denn beides wirft dank höheren Zinsen inzwischen wieder stattliche Renditen ab. Zyklische Investments werden wohl erst im Sommer ein Thema werden.

Wie beurteilen Sie die Ausgangslage für die «Magnificent Seven» - Apple, Microsoft, Alphabet, Amazon, Nvidia, Tesla und Meta

Man kann von keiner Blasenbildung reden. Jetzt geht es um Wachstum und Gewinne in harten Dollars, im Gegensatz zur TMT-Blase im 2000, als vor allem Hoffnung im Spiel war. In der Beschleunigungsphase einer Technologiewelle schwanken solche Titel einfach zwischen teuer und extrem teuer. Selbst bei einer möglichen Rotation in zyklische Werte, wird man dort keine grossen Rückschläge sehen. Und für Schweizer Anleger gilt: Auf der Technologieseite hat der Schweizer Markt kaum etwas zu bieten, daher muss man fast in den USA investieren. 

Welche Megatrends werden dieses Jahr die Börsen dominieren? 

In Sachen Megatrends sind natürlich Cloud Computing und Künstliche Intelligenz längst im Mainstream angekommen. Unserer Einschätzung nach bietet die Digitalisierung im Gesundheitswesen grosse Chancen und dürfte 2024 noch Schlagzeilen machen.

Was sind Ihre Schweizer Aktienfavoriten für das Jahr 2024?

Dies sind Alcon, Holcim, Nestlé, Sandoz und Stadler Rail. Die Befürchtungen von Umsatzeinbrüchen bei Nestlé wegen der Abnehm-Spritzen sind überrissen. Holcim ist eine langfristiger Infrastruktur-Gewinner mit einer extrem attraktiven Dividende. Die Newcomer der letzten Jahre wie Alcon verdienen eine grosszügigere Bewertung für ihr Wachstum und Sandoz hat noch nicht die richtige Abdeckung durch Analysten, was Potenzial bietet. Stadler Rail ist schliesslich ein werthaltiger Wachstumstitel, der extrem günstig ist und vom Mobilitätstrend profitiert.

Ein Finanztitel fehlt in der Auflistung…

Versicherer zahlen unglaubliche Dividenden und werden dennoch stiefmütterlich behandelt. Als Anleiheersatz gibt es ganz heisse Kandidaten. Wir empfehlen Swiss Life zum Kauf. Wir haben auch Zürich, Swiss Re, Baloise und Helvetia auf Halten, obwohl einige bereits seit Jahren 5 Prozent und mehr ausschütten. Da diese nicht zyklisch sind, machen diese als Portfolioergänzung und Renditebringer für Privatanleger absolut Sinn.

Welches sind weitere interessante Dividendenwerte?

Dies sind Unicredit unter den Banken, oder ING  bei den internationalen Versicherern. Telecomwerte sind auch stabile Renditegeber wie Swisscom, Orange oder Telefonica. Mit Accelleron haben wir hier in der Schweiz auch einen Dividendenwert am Start, der für einmal aus der Industrie kommt aber trotzdem mit Stabilität glänzt. 

Unten durch mussten Investoren bei Roche. Was ist am Rheinknie los?

Der ganze Gesundheitssektor litt unter dem Zinsschock und den Preis-Regulierungen in den USA. Und Roche musste eine sehr seltene und enttäuschende Phase-3-Studie bei einem Blockbuster-Kandidaten verkraften und hat daher besonders gelitten. Für uns ist der Titel immer noch 20 bis 25 Prozent unterbewertet. Auch Lonza als Pharmazulieferer war letztes Jahr von der Schwäche betroffen, obwohl man schon früh sah, dass 2023 ein sehr schwaches Jahr wird. Inzwischen hat der Titel wieder kräftig Boden gut gemacht, weshalb wir Zukäufe noch etwas vertagen.

Bei welchen Schweizer Aktien sehen Sie Gefahren?

Der Häuserbau befindet sich in einer starken Korrektur nach Jahren des Booms. Viele Bauzulieferer wie Belimo oder Sika verzeichneten grosse Rücksetzer. Geberit hat sich vom Höchststand während der Pandemie bis zum Tief im letzten Jahr halbiert. Im langen Bauzyklus ist es immer sehr schwierig, das Tief zu treffen.

Psychologische Fallen machen Anlegern das Leben schwer. Welche sind die grössten Hürden beim Investieren?

Der grösste Fehler, den ich auch selber mache, ist, dass man Verluste nicht realisieren kann. Die Wissenschaft sagt, dass man harsche Regeln befolgen müsste. Dies gilt auch bei Gewinnern, die man oftmals zu früh verkauft.

Man kämpft gegen sich selbst an…

Auch ich habe die richtige Mischung noch nicht gefunden. Wo ich stark zur Vorsicht mahne, ist beim Nachkaufen. Verluste mit Zukäufen ausgleiche, sollte man nur bei starker Überzeugung. Von guten Titeln in schlechte Umschichten ist eine weitere grosse Gefahr. Der Preis ist zwar tiefer, aber die Aktie vielleicht nicht wirklich billig.

Die Bewertung sollte im Zentrum stehen?

Das Gedankenexperiment kann man direkt am lebendigen Patient machen und das Portfolio durchgehen. Würde ich den Titel zum jetzigen Preis nochmals kaufen? Im Prinzip müsste man bei jedem Titel ein klares ‹Ja› als Antwort haben.

Christian Gattiker-Ericsson ist Chefstratege und globaler Leiter Research bei der Bank Julius Bär. Zuvor wirkte er als globaler Aktienstratege, Aktienanalyst und Ökonom bei verschiedenen Schweizer Banken.

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