Ein Aufruf zur Konsumenten-Rebellion gegen die Teuerung kam or ein paar Wochen von Paul Donovan — als Chefökonom der UBS nicht gerade als Revoluzzer bekannt. Doch angesichts der zuletzt vor allem von steigenden Profiten angeheizten Inflation schlug Donovan jüngst eine radikal klingende Lösung vor: eine Rebellion der Konsumenten. “Die Konsumenten davon zu überzeugen, Preiserhöhungen nicht passiv hinzunehmen, ist eine potenziell schnellere und weniger zerstörerische Möglichkeit, die durch Gewinnmargen verursachte Inflation umzukehren”, schrieb er.

Die von Frauen angeführten Boykotte von Lebensmittelgeschäften in den 1960er Jahren in den USA waren letztlich erfolglos. Die Inflation wurde erst Jahre später durch die massive Anhebung der Zinssätze durch die US-Notenbank gestoppt. Aber die Verbraucher von heute haben ein weitaus wirksameres Instrument als Plakate — die sozialen Medien.

An den Twitter-, Insta- oder TikTok-Pranger gestellt, könnten Produzenten Preiserhöhungen rasch freiwillig zurückfahren — auch um drakonischere politische Reaktionen zu vermeiden. Donovan verwies auf die Kampagne zum Boykott von Hüttenkäse in Israel im Jahr 2011, in deren Folge die Preise rasch sanken. Auch die britische Medienkampagne “Rip off Britain” gegen überhöhte Lebensmittelpreise nach der Finanzkrise war Donovan zufolge sehr effektiv.

Eine Ein-Sterne-Bewertung wegen Wucher für den Laden um die Ecke bei Google oder eine TikTok-Kampagne gegen einen Grosskonzern hören sich vielleicht unternehmensfeindlich an. Aber tatsächlich wäre das viel besser für die Wirtschaft (und am Ende auch die Aktienkurse) als grosse Zinsschritte, die unnötige Arbeitslosigkeit verursachen. Ebenso wäre es letztlich günstiger, die Profit-Preis-Spirale zu zügeln, als sie in eine Lohn-Preis-Spirale münden zu lassen.

Die These, dass die Ausweitung der Unternehmensgewinne eine wichtige Triebkraft der Inflation ist (“Gierflation”), wurde früher vor allem von Gewerkschaften und linken Akademikern vorgebracht. Jetzt wird sie zunehmend von Notenbankern ernst genommen. “Es wird viel über das Lohnwachstum diskutiert”, sagte Fabio Panetta vom Direktorium der Europäischen Zentralbank vor kurzem. “Aber wir schenken der anderen Einkommenskomponente — den Gewinnen — wahrscheinlich nicht genügend Aufmerksamkeit.”

Die Theorie der gewinngetriebenen Inflation lautet kurz gesagt wie folgt: Zunächst wurden die Verbraucher durch eine Flut schlechter Nachrichten und wirtschaftlicher Schocks — Pandemie, Lieferklemme, Krieg in der Ukraine, Energiekrise — darauf konditioniert, Preiserhöhungen einfach hinzunehmen. Es erschien logisch, dass die Preise für einfach alles sehr stark steigen.

Kunden stellen Preiserhöhungen immer öfter zu Recht in Frage

Da viele Konsumenten zugleich in der Pandemie Ersparnisse aufgebaut hatten, waren sie vielfach weniger preissensibel, als die Unternehmen erwartet hatten. Und so hörten die Unternehmen auf, sich gegenseitig zu unterbieten, sondern beschlossen, lieber geringere Mengen zu höheren Preisen zu verkaufen. Einige von ihnen schränkten die Einsteigerangebote ein und betonten mehr die hochpreisigen Produkte. Bei Mercedes etwa ist der Durchschnittspreis je verkauftem Auto seit 2019 um erstaunliche 43 Prozent gestiegen. Lufthansa-Chef Carsten Spohr frohlockte im letzten Monat, dass die aktuell höheren Flugpreise einfach “zu viel Spass” machten.

Glaubt man den Unternehmen, sind ihre Produkte einfach zu beliebt. Plausibler ist jedoch die Erklärung, dass viele Menschen in ihrem Leben noch nie eine nennenswerte Inflation erlebt haben — und deswegen über keinen siebten Sinn dafür verfügen, dass die Preise oft weit mehr als notwendig gestiegen waren.

Doch die Kunden stellen Preiserhöhungen immer öfter zu Recht in Frage. In den letzten Monaten sind die Preise für wichtige Vorprodukte wie Erdgas, Strom, Agrarprodukte, Fracht und Düngemittel gesunken. Lieferengpässe verschwinden zunehmend. Auch die Inflationserwartungen gehen zurück.

Zu den Anzeichen, dass die Preissetzungsmacht der Unternehmen zu bröckeln beginnt, gehören etwa der zuletzt rückläufige Absatz — in Europa stiegen etwa die Konsumgüterpreise im Schlussquartal 2022 um über 10 Prozent, während laut Bernstein Research der Absatz um 2,2 Prozent fiel. In den USA schwinden die Ersparnisse der privaten Haushalte, die Gewinnmargen haben begonnen, zu schrumpfen. “Wenn ein allgemeines Misstrauen gegenüber den Motiven für Preiserhöhungen besteht, wird es eine Tendenz geben, die Ausweitung der Gewinnspannen zu begrenzen”, so UBS-Volkswirt Donovan per E-Mail.

Bislang reagieren die Verbraucher auf die Inflation meist still, etwa indem sie von Markenartikeln auf billigere Eigenmarken umsteigen, bei Discountern wie Aldi und Lidl einkaufen oder Produkte länger benutzen.

Murren über die Preise hat sich zu offenem Unmut ausgeweitet

Aber das Murren über die Preise hat sich bereits gelegentlich zu offenem Unmut ausgeweitet. Im November beschwerten sich Kunden auf Facebook darüber, dass die britische Supermarktkette WM Morrison eine Packung mit 240 Beuteln Yorkshire Tea für 8,25 Pfund (9,20 Franken) verkaufte. Die deutsche Bundesregierung reagierte auf Instagram bereits auf Proteste gegen steigende Döner-Preise.

Unternehmen stellen fest, dass ihre Preissetzungsmacht Grenzen hat und dass zu grosse Gier ihren Marken schaden kann. Die US-Bierbrauer mussten einen Einbruch der Nachfrage hinnehmen, nachdem sie im letzten Jahr die Preise zu stark erhöht hatten. Walt Disney gestand im März ein, die Preise in seinen Vergnügungsparks zu “aggressiv” erhöht zu haben.

Natürlich gibt es auch Fälle, in denen die Aufregung fehlgeleitet ist. Supermärkte ziehen den öffentlichen Zorn über die Preise oft als erste auf sich, aber ihre Gewinnspannen sind im Vergleich zu einigen ihrer Lieferanten bescheiden. Die grossen Ketten könnten mehr tun, um die Lieferanten dazu zu bringen, sich für ihre Preiserhöhungen zu rechtfertigen.

Tescos “Beansgate”-Streit mit Kraft Heinz über höhere Preise im letzten Jahr führte dazu, dass Baked Beans und Ketchup vorübergehend aus den Regalen verschwanden. Im Januar erklärte Tesco-Chef John Allan, dass sich das Unternehmen mit mehreren Lieferanten über deren Preiserhöhungen “zerstritten” habe, behielt deren Namen jedoch für sich.

Viele werden in den kommenden Monaten auf den Preis für einen Flug oder ein Hotel schauen, fluchen und dann trotzdem auf Kaufen klicken. Aber wenn man ein Produkt oder eine Dienstleistung kauft, obwohl man weiss, dass der Preis unverschämt ist, setzt man die Inflation fort. Die Unternehmen sollten aufgefordert werden, Preiserhöhungen zu rechtfertigen, und die Verbraucher sollten sich nicht scheuen, sich zu beschweren, wenn sie nicht zufrieden sind.

(Kommentar von Andrea Felsted und Chris Bryant von Bloomberg)