Laut einer am Montag veröffentlichten Bloomberg-Umfrage unter mehr als 50 Teilnehmern wird für die nächsten zwei Jahre ein jährlicher Preisanstieg von 1,7 Prozent bzw. 1,8 Prozent erwartet. Einige sehen im Jahr 2023 sogar nur die Hälfte des EZB-Zielwerts. Der Median der abgegebenen Prognosen geht von einer ersten Zinserhöhung um einen Viertelpunkt im Dezember aus.

Angesichts der Weigerung von EZB-Präsidentin Christine Lagarde, eine solche Anhebung explizit auszuschliessen, ist diese Prognose nachvollziehbar. Die kollektive Erwartung der Ökonomen, dass die Inflation in den kommenden Jahren zu niedrig ausfallen wird, ist jedoch schwerer zu erklären - nicht zuletzt wenn man wie Lagarde annimmt, dass Zinserhöhungen erst in neun bis 18 Monaten wirksam werden.

Der EZB-Rat versucht, einen Kurswechsel hin zu einer weniger akkommodierenden Politik zu vollziehen, ist sich aber gleichzeitig früherer Fehler bewusst, die 2008 und 2011 zu missglückten Straffungsversuchen führten.

«Inflationsdruck ist noch nicht stark genug»

"Wir haben die Sorge, dass sich die möglichen Zinserhöhungen in diesem Jahr als Fehler erweisen könnten", sagt Oliver Rakau, Ökonom bei Oxford Economics in Frankfurt. "Der zugrunde liegende Inflationsdruck ist noch nicht stark genug für einen anhaltenden Zinserhöhungszyklus".

Auch andere Ökonomen denken laut darüber nach, ob sich ein Fehler anbahnen könnte. Sowohl Ruben Segura-Cayuela von der Bank of America als auch Joachim Fels von Pimco haben eine solche Möglichkeit in Betracht gezogen, die an Fehltritte der EZB vor mehr als einem Jahrzehnt erinnert.

Die meisten der befragten Ökonomen gehen davon aus, dass die Inflation im nächsten Jahr unter 2 Prozent liegen wird, wobei die Spanne von 0,9 Prozent bis zu 2,5 Prozent reicht. Die letzte Woche von der Europäischen Kommission abgegebene Prognose von 1,7 Prozent liegt ebenfalls unter dem Ziel.

EZB-Chefvolkswirt Philipp Lane hat unter politischen Entscheidungsträgern am lautesten betont, dass das derzeitige Tempo steigender Preise nicht anhalten wird. Am Donnerstag sagte er bei einem von MNI veranstalteten Webcast, die EZB werde "weder Überreaktionen noch Unterreaktionen auf aufkommende Inflationsrisiken" tolerieren.

Keine voreiligen Schlüsse ziehen

"Die Richtung, in die wir uns bewegen müssen, ist klar, aber wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen", sagte Spaniens EZB-Ratsmitglied Pablo Hernandez de Cos am Donnerstag auf einer von Bruegel und der staatlichen spanischen Finanzagentur ICO organisierten Online-Veranstaltung. "Ich sehe keinen Grund, überzureagieren."

Andere Ratsmitglieder sind besorgt, dass die Inflation, die derzeit über 5 Prozent liegt, die Lohnforderungen anheizen und zu einer dauerhaften Überschreitung des Ziels führen könnte. Zu den Geldpolitikern, die auf eine Straffung drängen, gehören Klaas Knot und Joachim Nagel, die Chefs der niederländischen und deutschen Notenbanken. Ihr lettischer Kollege Martins Kazaks sagte am Mittwoch, dass eine Anhebung in diesem Jahr "gut möglich" sei.

Die eigene Prognose der EZB vom Dezember zeigte für die Jahre 2023 und 2024 eine Inflationsrate von jeweils 1,8 Prozent. Eine neue Projektion ist im März fällig, wenn die Geldpolitiker auch Beschlüsse über eine weitere Rücknahme der geldpolitischen Anreize fassen könnten.

Der Chief Economics Adviser der italienischen Grossbank UniCredit, Erik Nielsen, sagte am Sonntag, dass die EZB ihre Prognose für das nächste Jahr auf 1,9 Prozent anheben könnte, was immer noch nicht ausreichen würde, um eine Straffung zu rechtfertigen. Er bezog sich auch auf die Prognose seines Kollegen Marco Valli, dass die Inflation mit durchschnittlich 1,4 Prozent wahrscheinlich noch niedriger ausfallen wird.

"Ich kann nur zu dem Schluss kommen, dass andere Themen (sprich: Politik) hinter der offensichtlichen Entscheidung stehen, die Stimulierungsmassnahmen bereits in diesem Jahr zurückzunehmen", so Nielsen. Es könnte ein Hinweis darauf sein, dass nationale Empfindlichkeiten in Deutschland und anderen nördlichen Ländern der Eurozone eine Rolle spielen könnten.

"Die Stabsprojektionen könnten zeigen, dass die Headline-Inflation bis Ende 2024 2 Prozent erreicht, wenngleich die Zahl für 2023 wahrscheinlich durch Basiseffekte aufgrund der steigenden Energiekosten Anfang 2022 gedämpft bleiben wird", sagten David Powell und Maeva Cousin von Bloomberg Economics. 

Nicht unbedingt ein Fehler

Silvia Ardagna, Volkswirtin bei Barclays, rechnet nicht vor März 2023 mit einer Zinserhöhung. Sie argumentiert, dass es in diesem Jahr nicht genügend Anhaltspunkte geben wird, um beurteilen zu können, ob sich die Inflation bei 2 Prozent stabilisieren wird, und dass ein früherer Schritt den Spielraum von Regierungen einschränken könnte, die gerade versuchen, die Auswirkungen des Energieschocks abzufedern. Piet Christiansen, Chefstratege der Danske Bank, ist nicht einmal davon überzeugt, dass die EZB die Kreditkosten am Ende tatsächlich anheben wird.

Während die Prognosen einiger Ökonomen nicht ohne Weiteres mit dem Zinsausblick in Einklang zu bringen sind, betonen andere, dass ein politischer Fehler, wie ihn die EZB früher begangen hat, nicht unvermeidlich ist. Die Inflation könnte zum Beispiel 2025 letztendlich doch noch anziehen.

Für Dirk Schumacher, Ökonom bei Natixis, ist eine Überschreitung des Ziels durchaus möglich, wenn man davon ausgeht, dass die Inflation mittelfristig sehr nahe an diesem Niveau liegt.

"Ist es ein geldpolitischer Fehler, zu straffen? Nicht unbedingt", sagte er. "An diesem Punkt geht es eher um die Frage, ob man seine Glaubwürdigkeit verliert und ob man ein Signal aussendet."

(Bloomberg)