Der Bundeskanzler Olaf Scholz hatte bei seinem Besuch in China die Spitzenmanager der "Deutschland AG" an Bord, um die engen wirtschaftlichen Beziehungen mit der Volksrepublik zu unterstreichen. Doch er muss sich immer öfter auch mit der Kehrseite auseinandersetzen: den wachsenden Bedenken über die Abhängigkeit Europas von Peking.

Die hochkarätige Delegation, zu der Führungskräfte der BASF, der Volkswagen, der Deutschen Bank und Biontech gehören, symbolisiert den erfolgreichen Handel mit der zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt. Doch ebenso verdeutlicht der eintägige Besuch am Freitag, wie viel Berlin zu verlieren hat, da in Washington, in europäischen Hauptstädten und sogar innerhalb von Scholz’ eigener Koalition die Rufe nach einem Kurswechsel lauter werden.

Nachdem die Europäer China jahrzehntelang in erster Linie als kommerzielle Chance gesehen haben, prüfen sie nun verstärkt die Sicherheitsrisiken, die mit dem Ausbau der Beziehungen zu einem Land verbunden sind, dessen Regierungschef eine “grenzenlose” Freundschaft mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin bekundet hat. Deutschland, das vom Export von Autos und anderen Waren nach China profitiert, steht vor einem besonders schwierigen Dilemma: Wie sehr sollte es sich auf einen Markt verlassen, der, wie Russland, plötzlich versperrt sein könnte.

Berlin ist sich bewusst, dass sich China unter der Herrschaft von Präsident Xi Jinping verändert hat und dass Deutschland seine Abhängigkeiten in strategischen Branchen verringern muss, sagt ein hoher Regierungsbeamter im Vorfeld der Reise. Gleichzeitig zeige Scholz’ Besuch, dass man China als wichtigen internationalen Akteur betrachte, der für die Bewältigung der drängendsten Herausforderungen der Welt unerlässlich sei, sagte der Offizielle, der nicht namentlich genannt werden wollte.

Scholz: Kluge Diversifizierung

“Wir wollen kein ‘Decoupling’, keine Entkopplung von China. Aber was will China?”, schrieb Scholz am Mittwoch in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Er bekräftigte zugleich seine Absicht “einseitige Abhängigkeiten abzubauen, im Sinne einer klugen Diversifizierung”.

Dieser Balanceakt ist schwieriger geworden in den mehr als drei Jahren, seit die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel - eine Verfechterin des Engagements sowohl mit China als auch mit Russland - die letzte Delegation nach Peking führte. Neben dem Krieg in der Ukraine belasten die Beziehungen zuletzt auch Chinas hartes Durchgreifen in Hongkong, die Sanktionen wegen der angeblichen Unterdrückung von Muslimen in Xinjiang und die Null-Covid-Politik, die Geschäftsreisende aus dem Ausland praktisch aussperrt.

Deutschlands langjähriger Handelsbilanzüberschuss mit China hat sich in ein Defizit verwandelt, da sich die Wirtschaft der Volksrepublik abkühlt. BASF und die deutschen Autobauer haben zwar in den letzten Monaten neue Milliarden-Investitionen getätigt, doch kleine und mittlere europäische Unternehmen haben ihr Engagement weitgehend eingefroren oder reduziert, hat die Rhodium Group errechnet.

Xi versucht, die Handelsbeziehungen zu Europa als Bollwerk gegen die Bemühungen von US-Präsident Joe Biden einzusetzen, der den Westen stärker gemeinsam in Stellung bringen will. Der chinesische Staatschef, der sich gerade eine dritte Amtszeit gesichert hat, weist Kritik an Themen wie Menschenrechte und Ukraine zurück und hat Brüssel aufgefordert, sich aus den inneren Angelegenheiten des Landes herauszuhalten und eine von Washington unabhängigere Politik zu verfolgen.

Neue Phase der Beziehungen

Der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell sagte vor kurzem in einer Rede, dass die Welt, in der sich die Europäische Union für ihre Sicherheit auf die USA und für ihren Wohlstand auf China und Russland verlassen konnte, “nicht mehr existiert”.

“Wir sind in eine neue Phase der Beziehungen zwischen Europa und China eingetreten”, sagte Noah Barkin, von der Rhodium Group. “Xi Jinpings Partnerschaft mit Wladimir Putin während Russland einen brutalen Angriffskrieg in Europa führt, hat in den europäischen Hauptstädten die Ansicht verstärkt, dass China in erster Linie ein Rivale und Konkurrent ist.”

Wie der französische Präsident Emmanuel Macron, teilen viele in Europa die Bedenken Deutschlands, sich in dem zunehmend konfrontativen und ideologischen Kräftemessen der USA mit China auf eine Seite zu schlagen. Sie plädieren für einen differenzierten Ansatz, bei dem Peking als Handelspartner erhalten bleibt. So sagte Scholz letzten Monat, dass Abkopplung die falsche Antwort sei, auch wenn man sich um eine Diversifizierung bemühe.

Die europäischen Staats- und Regierungschefs sträubten sich informierten Kreisen zufolge gegen Bemühungen der US-Regierung, sie für die Beschränkung des Zugangs Chinas zur Halbleitertechnologie einzuspannen. Das bewog die USA am Ende dazu, einseitig vorzugehen. Hochrangige EU-Beamte sind der Meinung, dass sich Washington zu sehr mit Peking beschäftigt und dabei andere Anliegen ausser Acht lässt, sagt ein mit den Gesprächen vertrauter Diplomat.

Die europäische Einigkeit in Bezug auf China endet jedoch an diesem Punkt. Die Länder des ehemaligen Sowjetblocks betrachten Pekings wirtschaftlichen Einfluss zunehmend mit Argwohn. Chinas Handelsembargo gegen Litauen wegen dessen Streben nach engeren Beziehungen zu Taiwan verstärkte diese Stimmung weiter, obwohl einzelne Länder, wie Ungarn, Peking weiter umgarnen.

China ist auch eines der Themen, bei denen Scholz und Macron sich zuletzt schwer damit getan haben, eine gemeinsame Linie zu finden.

Scholz betonte in seinem FAZ-Beitrag demonstrativ seine Abstimmung mit Paris. “Wenn ich als deutscher Bundeskanzler nach Peking reise, dann tue ich das zugleich als Europäer”, so der Kanzler. “Im Vorfeld meiner Reise haben wir uns daher eng mit unseren europäischen Partnern, darunter Präsident Macron, und auch mit unseren transatlantischen Freunden abgestimmt.”

E-Auto-Konkurrenz aus China

Den jüngsten Streit zu seiner China-Politik hatte Scholz koalitionsintern, nachdem er eine Vereinbarung durchgesetzt hatte, die es dem chinesischen Schifffahrtsunternehmen Cosco Shipping Holdings Co. ermöglicht, einen Anteil von 24,9 Prozent an einem Hamburger Hafenterminal zu erwerben. Die Transaktion wurde von vielen in seinem Kabinett abgelehnt. Grünen-Chef Omid Nouripour sagte, es könne kein “business as usual” mehr mit China geben.

Auch die europäische Sicht auf den chinesischen Binnenmarkt trübt sich ein, da der Wettbewerb mit einheimischen Herstellern schärfer wird. Autobauer wie BYD und Geely Automobile Holdings verkaufen inzwischen fast 80 Prozent der E-Autos in China und machen den Europäern zunehmend auch auf deren Heimatmärkten Konkurrenz. Ein schlechtes Omen für die deutschen Autobauer, die inzwischen mehr Fahrzeuge in China verkaufen als in jedem anderen Markt.

Nach einem heiklen Gipfeltreffen zwischen chinesischen und europäischen Staats- und Regierungschefs im April, kurz nach Russlands Einmarsch in der Ukraine, wird Scholz’ Reise nach Angaben eines europäischen Diplomaten in Peking auf Anzeichen für ein Tauwetter beobachtet.

Doch haben die kollabierten Beziehungen zwischen Europa und Russland deutsche Unternehmen gezwungen, sich mit dem einst Undenkbaren auseinanderzusetzen: einem überstürzten Rückzug aus dem chinesischen Markt. Industrievertreter spielen insgeheim bereits Worst-Case-Szenarien durch, in denen China in einen Konflikt um Taiwan gerät und Berlin Sanktionen gegen Peking verhängt.

Was Scholz bei einem so kurzen Besuch erreichen kann, bleibt abzuwarten. Die hochrangige Delegation, der auch Führungskräfte von Mercedes-Benz, Adidas, BMW und Siemens angehören, deutet darauf hin, dass Geschäftsabschlüsse angekündigt oder zumindest bekräftigt werden könnten. Scholz schrieb in der FAZ aber auch, dass er “schwierige Themen” wie die Achtung der bürgerlichen und politischen Freiheiten und die Rechte der ethnischen Minderheiten in Xinjiang nicht ignorieren werde.

Laut Ivana Karásková, China-Expertin bei der Prager Association for International Affairs, besteht auch die Gefahr, dass die Reise die chinesische Auffassung stärkt, die europäischen Hauptstädte gegeneinander ausspielen zu können. “Es wird China einmal mehr den Eindruck vermitteln, dass die EU nicht mit einer Stimme spricht und dass die Mitgliedsstaaten durch bilaterale Abkommen korrumpiert werden können”, so Karaskova.

(Bloomberg)