cash.ch: Frau Hockenjos, der Schweizer Aktienmarkt eilte im Sommer von Rekord zu Rekord. Wann ist das Ende der Fahnenstange erreicht? 

Fabienne Hockenjos: Momentan ist das in meinen Augen noch nicht der Fall. Zwar gehe ich kaum davon aus, dass die Linie weiter so gerade nach oben gehen wird. Ein Rücksetzer aufgrund von höherer Volatilität ist durchaus möglich. Allerdings glaube ich auch, dass Kurskorrekturen als Kaufgelegenheiten genutzt werden. Kurzfristig rechnen wir in den nächsten Wochen und Monaten mit einer höheren Volatilität an der Börse. Dies einerseits aufgrund der angespannten Corona-Lage, andererseits dürfte die Zinssituation die Märkte belasten.

Welche Sektoren sehen Sie in der Schweiz aktuell vorne und wo wird sich das Sentiment hinbewegen? 

Ich glaube, dass aufgrund der defensiven Qualitäten ein wenig Musik im Pharmasektor reinkommen könnte. Ansonsten sehen wir noch immer beim Thema Grundstoffe spannende Opportunitäten, sprich Sika oder Holcim. Diese dürften weiter von den zahlreichen Infrastrukturinvestitionen profitieren. 

Und global? 

Global sollte man weiter gut im zyklischen Konsum positioniert sein. Wir haben vor etwa zwei Monaten im Industriesektor, wo wir lange Zeit stark übergewichtet waren, erste Gewinne mitgenommen. Mittlerweile sind die Bewertung hier sehr sportlich. Aber im zyklischen Konsumgütersektor dürfte insbesondere mit den Öffnungen und dem sehr guten Konsum-Sentiment noch Luft nach oben sein. 

Im April hatten Sie im Interview mit uns die Regionen USA und Europa als neutral eingestuft. Hat sich daran etwas geändert? 

Nein, grundsätzlich nicht. Wir haben auch hier einige Gewinne mitgenommen. Aktuell sehe ich vor allem, dass sich in Fernost Opportunitäten auftun – vor allem aufgrund der hohen Rückschläge in China. Was das Bewertungsniveau betrifft, sehe ich hier viel Potenzial, insbesondere wenn man sich die langfristigen Wachstumsaussichten vor Augen führt. Vor dem Hintergrund, dass die Indizes in USA und Europa von Rekord zu Rekord eilen, erscheint es mir attraktiv, in einen Markt einzusteigen, der underperformt hat und trotzdem langfristig gute Renditemöglichkeiten bieten wird. 

In China zeigte sich die Regierung zuletzt höchst unberechenbar, vor allem aus Investorensicht. Wie blicken Sie auf die jüngsten Regulierungsvorstösse? 

Die Chinesen haben zwar heftiger interveniert als gedacht, doch ganz unerwartet war es ja eigentlich nicht. Die Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, qualitativ hochwertigeres Wachstum zu erzielen, und die Regulierungsbestrebungen sind mit diesem Ziel im Einklang. Die Heftigkeit und Konsequenz der Massnahmen überrascht natürlich. Aber das Bewusstsein, dass Peking jetzt ernst macht, ist mittlerweile in den Preisen abgebildet. 

Das heisst, Anlegerinnen und Anleger können jetzt wieder einsteigen? 

Ja. Der asiatische Aktienmarkt birgt grosses Überraschungs-Potenzial. 

US-Notenbank Jerome Powell deutete in Jackson Hole an, dass die schrittweise Rückführung der Anleihekäufe – auch Tapering genannt – noch in diesem Jahr starten düfte. Haben das die Märkte eingepreist? 

Wenn ich mir die Renditen der zehnjährigen US-Treasuries anschaue, glaube ich, dass hier weder das anstehende Tapering noch die damit einhergehende Diskussion über eine erste Leitzinserhöhung abgebildet ist. Der Markterwartung nach wird die erste Zinserhöhung 2023 vorgenommen. Sobald wir den Pfad des Taperings kennen, werden wir sehr schnell in der Zinsdiskussion stecken – wie damals bei Ben Bernanke nach der Finanzkrise. Damals hatte die negative Marktreaktion stattgefunden, bevor das eigentliche Tapering begann. Dieses Mal werden wir Ähnliches beobachten. Daher erwarten wir in den nächsten Wochen eine erhöhte Volatilität. 

Das verheisst nichts Gutes für die Börsen. 

Ich erwarte bis Ende des Jahres einen Anstieg der Renditen auf US-Treasuries. Die Realrenditen sind noch immer extrem tief. Hier haben wir sicher einen potenziellen Auslöser für Unsicherheit am Markt. Doch ich würde nicht sagen, dass dies besonders schlecht für die Aktienmärkte sein muss. Eine Korrektur würde von den meisten Marktteilnehmern für Zukäufe genutzt werden, ganz im Sinne von 'buy the dip'. 

Im Hinblick auf steigende US-Treasuries: Ist Vorsicht bei Wachstumsaktien geboten? Schliesslich sind diese traditionell eher hoch bewertet.  

Bei Wachstumsaktien hat es durchaus Bewertungniveaus, die von Zinserhöhungsfantasien betroffen wären. 

Sprechen wir da auch über die grossen Tech-Titel wie Apple, Amazon und Alphabet, oder eher über die Kleinen? 

Ich erwarte, dass dies eher die kleineren Titel treffen wird. Die grossen US-Tech-Unternehmen haben eine enorme Unterstützung von der unterliegenden Ertragskraft. 

Blicken wir etwas genauer auf Schweizer Aktien: Im April hatten Sie im Interview mit uns unter anderem die Aktie von Cembra empfohlen. Im August ist dann Grosskunde Migros abgesprungen – und die Aktie brach um 30 Prozent ein. Wie bewerten Sie die Situation jetzt? 

Das war schon eine harsche Marktreaktion. Ich denke, mit der jüngsten Kurskorrektur ist ein Kursniveau erreicht, das mittelfristig eine gute Einstiegsgelegenheit bietet. 

Was macht Ihnen Hoffnung bei Cembra? Was sind die zukünftigen Kurstreiber? 

Das unterliegende Geschäftsmodell von Cembra ist noch immer attraktiv und bietet auch nach dem Absprung von Migros eine grosse Ertragskraft. Die Ankündigung von Migros war sicherlich überraschend. Doch Cembra ist im Bereich der Konsumkredite strukturell sehr gut positioniert. Zudem haben Sie in vergangenen Krisen bewiesen, dass sie bei ihren Ausfallraten sehr gut unterwegs sind. Auch ihre Kapitalbasis ist absolut solide. Damit bleibt Cembra auch ein attraktiver Dividendentitel. 

Eine andere Aktie, die es zuletzt schwer hatte, ist Holcim. Als Beobachter hat man das Gefühl, die Aktie ist zwar der Liebling aller Analysten, aber kein Favorit von Anlegern. Was ist da los? 

Die Nachhaltigkeitsthematik, die bei Anlegern immer wichtiger wird, hat in diesem Jahr auf dem Aktienkurs von Holcim gelastet. Allerdings beurteilen wir das anders. Holcim ist in Sachen Nachhaltigkeit im Sektorvergleich führend. Daher empfehlen wir die Aktie auch zum Kauf. Wir glauben, dass die Bewertung sehr attraktiv ist und die Aussichten für das Geschäft sehr positiv sind. Holcim hat mit dem Infrastrukturprogramm von US-Präsident Joe Biden noch mal einen Schub erhalten. Von daher schliesse ich mich bei Holcim meinen Kollegen an, was den 'Liebling' betrifft (lacht)

Roche hingegen hatte zuletzt einen sehr guten Lauf. Soll man hier dabeibleiben? 

Beide Pharmariesen aus Basel sind aktuell sehr attraktiv bewertet. Sowohl bei Roche als auch bei Novartis ist die Pipeline sehr vielversprechend. Wir haben hier sehr solide und zukunftsträchtige Geschäftsmodelle, die wir beide für das Portfolios empfehlen würden. 

Novartis hatte zuletzt ziemlich Mühe an der Börse. Wird die Aktie also bald vom Markt wiederentdeckt? 

Ja, wir würden Novartis momentan sogar Roche vorziehen.

Warum? 

Roche konnte – unter anderem mit den Schnelltests – von der Covid-19-Pandemie profitieren, wodurch die Aktie ein gewisses Momentum gewonnen hat. Novartis hingegen war beim Thema Corona aussen vor. Entsprechend besteht hier durchaus Aufholpotenzial im Vergleich zu Roche. 

Die Aktie des grossen Pharmazulieferers Lonza hat nach einer langen Seitwärtsphase zuletzt wieder den Weg nach oben gefunden. Zu Recht? 

Ja, und ich glaube auch nicht, dass hier das Ende der Fahnenstange erreicht ist. Lonza ist in seinem Bereich sehr gut aufgestellt. Die Aktie hat weiterhin grosses Potenzial. 

Logitech hat Anlegerinnen und Anlegern lange Zeit Vergnügen bereitet. Seit den letzten Geschäftszahlen von Ende Juli scheint die Freude verflogen. Ist das Momentum hier vorerst vorbei?

Nein. Logitech wird von dem Investitionsbedarf der Leute, was Home Office betrifft, weiterhin profitieren. Auch zukünftig wird man viel mehr Zeit zuhause verbringen als noch vor der Krise. Zudem profitiert Logitech von langfristigen Trends im Gaming-Bereich, wodurch die Nachfrage nach Logitech-Produkten weiter getrieben wird. Die deutliche Kurskorrektur war auch auf die konservative Guidance zurückzuführen.

Wo sehen Sie noch Chancen auf dem Schweizer Aktienmarkt?  

Wir sind noch immer positiv gestimmt bei langfristigen Technologie-Themen, wie wir sie etwa bei ABB vorfinden. Dort sehen wir trotz der jüngsten Kursgewinne noch Potenzial. Zudem setzen wir vor dem Hintergrund der Zinssituation als Investment im Finanzbereich immer noch auf Partners Group. Die Aktie wird weiter von der Alternativlosigkeit am Markt profitieren. Mit ihren Produkten trifft Partners Group hier voll ins Schwarze.

Fabienne Hockenjos ist seit Juni 2020 Anlagechefin bei der Basellandschaftlichen Kantonalbank (BLKB). Davor war sie im Unternehmen unter anderem als Head Investment Research tätig. Zu ihren früheren Stationen zählt die Notenstein La Roche Privatbank sowie der Versicherungskonzern Baloise