"Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen." Dieses Zitat, welches dem Schriftsteller Mark Twain zugeschrieben wird, drängt sich geradezu auf, wenn es um die Vorhersage von Börsenentwicklungen seitens von Marktbeobachtern geht. Klar ist, eine Zwölf-Monats-Prognose für einen Aktienindex gleicht immer auch einer reinen Spekulation – da kann das Finanzhaus noch so renommiert sein. Klar ist aber auch, dass solche Markt-Prognosen Aufschlüsse über die gegenwärtige Stimmung an den Finanzmärkten geben können. 

Eine Umfrage von cash.ch unter Schweizer Banken und Asset Managern zeigt: Die Stimmung bleibt insgesamt optimistisch. Nachdem der SMI 2021 bisher knapp 19 Prozent hinzugewinnen konnte, glauben alle 17 von cash.ch befragten Finanzhäuser, dass der Swiss Market Index (SMI) auch Ende 2022 höher stehen wird. Die grössten Bullenhörner setzt sich die UBS mit einem Kursziel von 13'700 Punkten auf. Fast schon ein kleines Bärenkostüm zieht sich die Privatbank Lombard Odier an mit einem prognostizierten SMI-Punktestand von 12'800.

Tabelle: So sehen Schweizer Vermögensverwalter den SMI Ende 2022 (aktueller Stand: 12'720 Punkte)

Bank/InstitutSMI-Prognose Ende 2022
UBS13'700
ZKB13'300
Raiffeisen Schweiz13'000 
Julius Bär13'500
Pictet Asset Management+5-10 %
Schroders Schweiz13'500
VV Vermögensverwaltung13'500
Valiant Bank13'000-13'300 
Lombard Odier12'800
Bank J. Safra Sarasin13'600
Basler Kantonalbank höher
Migros Bank13'250
St.Galler Kantonalbank13'300
Helvetische Bank13'400
Rahn+Bodmer+3-4%
Graubündner Kantonalbankhöher
VP Bankhöher

Quelle: cash-Befragung

Was auf dem ersten Blick nach einem "Bull Case" für die Börsen klingt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung mitunter als wenig euphorisch. Corona, Lieferengpässe, Inflation – die grossen Themen, welche die Finanzmärkte in diesem Jahr in Atem gehalten haben, werden sie auch 2022 nicht loslassen, so der Tenor.

So werden in den Augen von Raiffeisen-Schweiz-Anlagechef Matthias Geissbühler "die Brötchen 2022 etwas kleiner gebacken". Sowohl auf der Makro- als auch auf der Gewinnseite rechnet Raiffeisen mit einer Wachstumsverlangsamung. Hinzu komme, dass die leicht steigenden Zinsen erneut zu einer etwas höheren Bewertungskontraktion führen dürften, so Geissbühler. "Unter dem Strich bedeutet dies für die Aktienmärkte eine Seitwärtstendenz mit leicht positivem Tilt." Den SMI sieht er Ende 2022 bei etwa 13'000 Punkten.

Ähnlich zurückhaltend äussert sich Eric Steinhauser von der Privatbank Rahn+Bodmer. Er sieht in den bisherigen Kursgewinnen bereits einiges vorweggenommen. "Fundamental haben die Märkte eigentlich nicht mehr viel Potenzial", gibt er zu bedenken. Da er aber trotzdem davon ausgehe, dass die Konjunktur vor allem in der ersten Jahreshälfte weiter positiv verlaufen werde, rechne er für das Gesamtjahr mit einer SMI-Performance von 3 bis 4 Prozent. "Sehr viel hängt davon ab, ob sich die Lieferkettenprobleme im Verlauf 2022 abschwächen", mahnt Steinhäuser. 

Leicht steigende Zinsen lasten auf Aktienbewertungen

Auch für Bernd Hartmann, Anlagechef der VP Bank, sind die Lösung von Grundstörungen wie den "Lieferengpässen, der Knappheit und den Preisverwerfungen" entscheidend für das Aktienjahr 2022. Sollte sich hier die Lage beruhigen, erwarte er durchaus eine gute wirtschaftliche Dynamik. "Der Auftragsbestand ist ja bereits sehr stark", so Hartmann. Allerdings gibt auch er zu bedenken, dass im Markt bereits sehr viel Positives eingepreist sei. Zudem laste das allmähliche Ende der ultra-expansiven Geldpolitik sowie leicht steigende Zinsen auf den Aktienbewertungen. 

Regional erwartet Hartmann für Europa stärkere Zugewinne als in den USA. Auch weil hier ein Bewertungsabschlag auszumachen sei. "Die Schweiz dürfte aber etwas weniger gut performen als der europäische Gesamtindex", fügt Hartmann hinzu. 

Teil I - Schweiz und USA: Die Tops und Flops des Aktienjahres 2021 - und was sie 2022 versprechen

Teil II - Immobilienexperte Donato Scognamiglio warnt vor überraschend schneller SNB-Zinserhöhung

Teil III - VR-Mandate: Der «Fall Severin Schwan» bei der Credit Suisse muss der letzte seiner Art sein

Teil IV - Weder Bitcoin noch Ether: Dies sind die grossen Gewinner des Krypto-Jahres 2021

Caroline Hilb von der St.Galler Kantonalbank sieht den SMI Ende 2022 bei etwa 13'300 Punkten. Es drohten aber volatilere Zeiten als in 2021. Positive Treiber seien die Konjunktur sowie die Gewinnerwartungen. Risiken sieht Hilb im "zunehmenden Inflationsdruck und der erratisch wirkenden Geldpolitik mit möglichen Überraschungsmanövern". Zudem könnten Chinas Macht- und Wirtschaftspolitik, das Pandemiegeschehen sowie die Verflechtung mit Lieferketten und Handelswegen weiter belasten, warnt Hilb. 

Streitthema Inflation

Punkto Inflation sind sich die von cash befragten Expertinnen und Experten nicht durchs Band einig. Marc Possa von der VV Vermögensverwaltung glaubt, dass die Inflation eher temporär sei und "aufgrund der hohen aktuellen Basis in einem Jahr moderat ausfallen wird". Dies werde, so Possa weiter, zu einem weiterhin günstigen Umfeld beitragen. "Zusammen mit dem nach wie vor bestehendem Alternativenmangel werden weiter Inflows in Realwerte und somit auch in Aktien stattfinden", ist der Fondsmanager überzeugt. Den SMI sieht er Ende 2022 bei 13'500 Punkten. 

Doch auch Possa sieht für das nächste Börsenjahr eine leicht zunehmende Volatilität auf die Märkte zukommen, gibt aber gleichzeitig auch ein wenig Entwarnung. "Die Volatilität wird von vielen als Chance genutzt werden, um den Negativzinsen zu entgehen." Mit anderen Worten: Rückschläge werden für Nachkäufe genutzt.  

Lichtblick aus China

Adrian Schneider von der Graubündner Kantonalbank (GKB) sieht zudem einen Lichtblick aus Fernost, der auch dem Schweizer Aktienmarkt zugute kommen könnte. "​​China dürfte mittels fiskalen Stimuli die Wirtschaft im nächsten Jahr stabilisieren, wie es sich jetzt schon abzeichnet", glaubt der Anlagechef. Zusammen mit der noch immer lockeren Geldpolitik der Notenbanken und den globalen fiskalpolitischen Programmen biete dies eine gute Unterstützung für die Märkte. 

Zwar sieht auch Schneider die hohen Bewertungen bei Aktien (gemessen am Kurs-Gewinn-Verhältnis) im nächsten Jahr etwas zurückkommen, fügt aber hinzu: "Sie werden wegen der nach wie vor anhaltenden Alternativlosigkeit allerdings weiter über dem historischen Schnitt bleiben." Als Grund fügt Schneider die steigenden Gewinne pro Aktie an, welche die tieferen Bewertungen kompensieren würden. 

Wer richtig liegen wird, wird die Zeit zeigen. Marc Possa drückt es so aus: "Der 'Schwarze Schwan' wird wie immer lange unerkannt bleiben, und dann plötzlich überraschend auftreten – und uns alle auf dem falschen Fuss erwischen."