Die im internationalen Vergleich geringen Bewertungen machen selbst die grössten britischen Unternehmen zu Übernahmezielen. Daher wollen sich immer mehr Firmen von der dortigen Börse zurückziehen oder machen gleich einen Bogen um die London Stock Exchange (LSE).

Zu den prominentesten Firmen, die dem mehr als 300 Jahre alten Handelsplatz zuletzt die kalte Schulter zeigten, gehört ARM. Wegen des leichteren Zugangs zu frischem Kapital wählte der im britischen Cambridge beheimatete Chip-Designer die US-Technologiebörse Nasdaq für sein umjubeltes Börsen-Comeback im September 2023. Dank des Booms bei Künstlicher Intelligenz (KI) hat sich der Aktienkurs seither beinahe verdreifacht. Die für rechenintensive KI-Programme notwendigen Hochleistungsprozessoren basieren fast ausschliesslich auf ARM-Technologie.

«Der Londoner Aktienmarkt steht zum Verkauf», sagt Charles Hall, Chef-Analyst des Brokerhauses Peel Hunt. «Bei niedrigen Bewertungen ist es absolut unvermeidlich, dass ausländische Investoren mit spitzem Bleistift rechnen.» Ein Grund für die unterdurchschnittliche Kursentwicklung sei der Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union (EU), erläutert Emmanuel Cau, Chef-Anlagestratege für Europa bei der Barclays Bank. Der Brexit habe dem Land Stagnation und einen der weltweit höchsten Kapitalabflüsse eingebrockt.

Der Londoner Auswahlindex FTSE notiert aktuell mit knapp 7900 Punkten zwar in Schlagdistanz zu seinem Rekordhoch vom Februar 2023. Das Verhältnis der Kurse zu den Gewinnen je Aktie der dort notierten 100 Firmen liegt allerdings mit 11 nur knapp halb so hoch wie im US-Leitindex S&P 500. Das ist der grösste Abstand seit mindestens 1990. Der Dax kommt auf ein Kurs/Gewinn-Verhältnis (KGV) von gut 15.

Sag' zum Abschied leise «Servus»

«Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich jemand an BP heranmacht», sagt Analyst Dan Coatsworth vom Online-Broker AJ Bell. «Eine britische Firma nach der anderen wird von ausländischen Konkurrenten oder Finanzinvestoren übernommen. Sie erkennen die günstige Gelegenheit und wissen, dass eine Übernahme entweder ihre Marktposition stärkt oder ihnen im Laufe der Zeit einen ordentlichen Gewinn einbringt.»

Aus diesem Grund haben der Glücksspiel-Anbieter Flutter und der Bauindustrie-Zulieferer CRH bereits im vergangenen Jahr den Wechsel von der Londoner an die New Yorker Börse angekündigt. BP-Erzrivale Shell denkt über einen solchen Schritt nach, weil vor allem europäische Ölkonzerne US-Firmen wie Exxon oder Chevron seit Jahren bewertungstechnisch hinterherhinken.

Milliardenschwerer Kapitalabfluss

«Es wird uns auf Jahrzehnte hinaus ärmer machen, wenn Unternehmen wie BP und Shell abwandern», warnt Peel Hunt-Experte Hall. «Denn es bedeutet einen enormen Kapitaltransfer. Dies geschieht in kleinerem Umfang bereits auf dem gesamten britischen Aktienmarkt.» Der FTSE-Nebenwerteindex könnte bereits 2028 vor seinem Ende stehen, wenn britische Firmen im anhaltenden Tempo übernommen würden oder eine Notierung in London gar nicht erst anstrebten.

Am Hauptmarkt der LSE sind den Angaben zufolge rund 1000 Firmen aus 100 Staaten notiert. Die Gesamtkapitalisierung beläuft sich auf umgerechnet etwa 4,4 Billionen Euro. Im Auswahlsegment Prime Standard der Deutsche Börse finden sich knapp 300 Firmen mit einem Börsenwert von insgesamt etwa 2,2 Billionen Euro.

(Reuters)