Wer als Anleger in den letzten zehn Jahren den US-amerikanischen Aktienmarkt vernachlässigt hat, dürfte sich heute ärgern. Mehr als 240 Prozent konnte der Dow Jones in der letzten Dekade zulegen, der Tech-Index Nasdaq Composite gar um über 400 Prozent. Europäische Aktien können da nicht mithalten. Der Euro Stoxx 50 legte im gleichen Zeitraum lediglich um 70 Prozent hinzu. Als Hauptgründe werden meist das unternehmerfreundliche Umfeld in den USA und die hohen regulatorischen Vorgaben in den europäischen Staaten ins Feld geführt.

Also alles Kapital raus aus Europa und rein in den US-Markt? Nein. Denn: Der europäische Aktienmarkt ist durch den Abfluss von Kapital elementar unterbewertet. Grosse Asset Manager sowie Pensionskassen und Versicherungsgesellschaften sind im europäischen Aktien-Markt stark untergewichtet. Allein seit 2016 wurden Aktien im Volumen von rund 200 Milliarden Dollar aus Europa abgezogen. Das Kapital floss in die Schwellenländer, nach Japan und eben in den US-Markt - oder wird von Investoren als Cash-Reserve gehalten.

Chance für Stock Picker

Doch wenn Aktienmärkte unterbewertet sind, schlägt die Stunde der Stock Picker. Auch wenn zuletzt viel Kapital aus Europa abfloss und der hiesige Aktienmarkt unterperformte, bietet er durchaus Chancen für Anleger. "Der europäische Aktienmarkt ist komplex. Doch befinden sich hier global führende Marken und Technologien, viel geistiges Eigentum, noch immer ein moderates Wachstum, stark ausgeprägte Corporate Governance sowie ein gut ausgebildetes Humankapital", schreibt Ben Ritchie von Aberdeen Standard Investments in einer Analyse. Das alles mache Europa zum "perfekten Markt für Stock Picker".

Mässiges Wachstum: Kursentwicklung des Euro Stoxx Europe 50 in den letzten zehn Jahren, Quelle: cash.ch.

Folgende vier europäische Titel gelten am Markt als unterbewertet und könnten in die Portfolios von Stock Pickern passen.

Nokia: Vom Handyhersteller zum Netzwerkausrüster

Angefangen hat Nokia als Hersteller von Papiererzeugnissen. Nachdem man später als weltweit führender Mobiltelefonhersteller von Apples iPhone-Markteinführung fast in den Ruin getrieben wurde, versucht sich das finnische Unternehmen nun als Netzwerkausrüster – und das durchaus erfolgreich. Die Finnen profitieren dabei von der gestiegenen Nachfrage nach neuen, schnellen Mobilfunknetzen.

Eine Studie der Analysehauses Strategy Analytics geht davon aus, dass, wenn 2023 sich das 5G-Netz weltweit etabliert hat, Nokia zu den drei führenden technischen Anbietern gehört – neben Huawei und Ericsson. An der Börse schlägt sich das Potenzial noch nicht nieder. Seit Jahren dümpelt die Nokia-Aktie mit einigen Auf und Abs um den Wert von 4,50 Euro. Cédric de Fonclare von Jupiter Asset Management sieht den fairen Wert derzeit bei 6,50 Euro. Das wäre zum derzeitigen Kurs von 4,42 Euro ein Plus von 47 Prozent. Auch Analysten der UBS, der Credit Suisse und der Deutschen Bank empfehlten die Aktie zuletzt zum Kauf. 

Heineken: Stark positioniert

Das Börsenjahr startete gut für den weltweit zweitgrössten Bierbrauer. Knapp 25 Prozent legte die Aktie im ersten Quartal zu. Doch seitdem kommt sie nicht vom Fleck. Unter Druck gerieten die Titel zuletzt durch getätigte Übernahmen, die auf die Profitabilität drückten sowie durch die allgemeine Sorge über ein steigendes Wettbewerbsumfeld. Ende Juli enttäuschte Heineken denn auch die Anleger mit mässigen Halbjahreszahlen. Das operative Ergebnis stieg nur um 0,3 Prozent auf 1,87 Milliarden Euro. Die Analysten rechneten im Schnitt mit 1,92 Milliarden.

Doch einiges spricht dafür, dass die Aktie derzeit unterbewertet ist. Heineken ist im zunehmenden Wettbewerb durch ein breit diversifiziertes Marken-Portfolio gut aufgestellt. In Europa ist man durch eigene Premium-Biermarken in der Lage, das steigende Bedürfnis nach hochwertigeren (und teureren) Bieren zu bedienen. Auch die Markt-Positionierung ist breit diversifiziert. Neben Europa ist man in den strukturell wichtigen Märkten Südamerika, Asien und Afrika gut aufgestellt. Analysten sehen die Zukunft des Bierbrauers denn auch überwiegend positiv: Von 28 Experten raten 13 zum Kauf und elf zum Halten der Aktie.

Swedish Match: Rauchfreier Tabak ist die Zukunft

Der schwedische Tabakkonzern möchte langfristig zum Weltmarktführer für rauchfreie Tabakprodukte aufsteigen. In Skandinavien ist der weltgrösste Hersteller von Snus (Oraltabak) bereits unangefochtener Marktführer. In den USA hat Swedish Match seine Stellung ebenfalls bereits stark ausgebaut. Zuletzt zeigten sich Anleger besorgt über zunehmende Regularien in der Tabakbranche. Der Aktienkurs fiel in den letzten 6 Monaten um zehn Prozent.

Kursentwicklung der Nokia-Aktie in den letzten 6 Monaten, Quelle: cash.ch. 

Doch genau hier liegt die Chance für den Konzern. "Die regulatorischen Bedenken sind übertrieben. Sie ignorieren, dass neue Regeln rauchfreie Tabakprodukte pushen", ist Ben Ritchie von Abderdeen Standard in seiner Analyse überzeugt. Zudem versprächen neue innovative Produkte wie die Snus-Variante "Zyn", die jüngst im US-Markt eingeführt wurde, signifikantes Wachstum.

Akzo Nobel: Konsequente Straffung des Unternehmens

Das niederländische Grossunternehmen für Spezialchemie Farbenherstellung war ehemals grösster Hersteller von Farben und Lacken weltweit. Doch im letzten Jahr straffte das Unternehmen sein Portfolio durch den Verkauf der Spezialchemie-Sparte. Akzo verzichtet seit einiger Zeit verstärkt auf Erlöse, die mit niedrigen Gewinnmargen einhergehen. Der Markt goutiert das noch nicht. Der Aktienkurs verlief in den letzten 12 Monaten praktisch seitwärts.

Doch Analysten sehen die Akzo Nobel überaus positiv. Für Columbia Threadneedle "profitieren seine Marken-Dekorfarben und seine hochleistungsfähigen Farben von der Preismacht des Unternehmens", wie das Analysehaus schreibt. Andere Analysten sehen grosse Chancen darin, dass der Markt das Potenzial der Straffung des Unternehmens noch nicht ausreichend erkannt hat.