cash.ch: Der Swiss Market Index (SMI) hat seit Jahresbeginn trotz Bankenkrise, steigender Zinsen und konjunktureller Abschwächung 3 Prozent gewonnen. Wie ist der Zustand des Schweizer Aktienmarkts?

Bis zur Bankenkrise war das Jahr fulminant gestartet. Dies zeigte, wie gedrückt die Stimmung gewesen war. Der SMI handelt derzeit bei einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 20, was einer Gewinnrendite von 5 Prozent gleichkommt. Und die Dividendenrendite ist bei stattlichen 3 Prozent gegenüber den 1,2 Prozent bei den zehnjährigen Eidgenossen, was einem grosszügigen Risikoaufschlag entspricht. Somit kann man sagen, dass der Leitindex hierzulande im Vergleich zu seiner Bewertungshistorie keine Extreme verzeichnet, aber im Vergleich zu anderen Kernanlagen immer noch günstig zu haben ist. Bei der Stimmung verhält es sich dagegen deutlich anders.

Wie hat sich die Stimmung an den Märkten entwickelt?

Ich finde es frappant, wie extrem negativ die Wahrnehmung an den Börsen in den jüngsten Umfragen ist. Man hat zum Teil Umfrageergebnisse, die die Niveaus von 2008 und 2009, dem Höhepunkt der globalen Finanzkrise und den Tiefpunkten an den Finanzmärkten damals notabene, unterschiessen. 

Wie äussert sich diese negative Stimmung in den Umfragen?

Die Investorenstimmung in den USA ist nahe am Tiefpunkt und die Cash-Bestände der Fondsmanager nahe den Höchstständen. Wir befinden uns immer noch nahe an Stimmungsextremen. Die aufkommende Hoffnung auf eine gedrückte Inflation und sinkende Zinsen sind sicherlich etwas, was die Stimmung gelegentlich aufhellen könnte.

Was ist die Hauptangst, die die Anlegerinnen und Anleger umtreibt?

Die eigentliche Hauptangst ist, dass eine übereilte Zinsstraffung eine Bankenkrise und damit spätestens per 2024 eine Rezession auslöst. Pessimistische Stimmen meinen sogar, dass diese schon im Gange ist. Das ist der grosse Wechsel der vergangenen Monate: Der Fokus ist von der Inflationsbekämpfung und hohen Teuerungsraten hin zu Sorgen um das Finanzsystem und zu Wachstumsängsten übergegangenen.

Inwiefern hängt die Bankenkrise mit den Wachstumsängsten zusammen?

Allgemein fürchten die Anleger eine Kreditklemme, also ein Einbruch bei der Kreditvergabe durch Banken, als Folge der Probleme im Bankensektor. Dies vor allem für die USA, wo kleinere Banken offensichtlich im Schatten der Regulierung ein eigentliches Kreditbonanza veranstaltet haben. Das Zurückrudern hier dürfte zu einigen Flurschäden führen. Der eigentliche Leidtragende dürfte der Bereich Geschäftsimmobilien sein. Ob und wie schnell eine Kreditklemme eintritt, ist aber noch sehr unsicher. Wir denken, dass sich die Effekte dieses Mal wesentlich milder und zeitlich deutlich verzögert eintreten. Das hat mit der nachpandemischen Situation zu tun, wo der starke Arbeitsmarkt und hohe Barbestände der privaten Haushalte diese Bremse aus dem Finanzsystem noch einige Zeit übersteuern können. Eine deutlichere Abkühlung könnte deshalb in den USA erst nächsten Winter spürbar werden. 

Was bedeutet dies für die Weltwirtschaft?

Die Kontraste könnten stärker nicht sein. Die USA dampften bisher vorneweg, Europa rappelt sich nach dem stärksten Schock seit der Ölkrise wieder auf. Und China kommt aus zwei Jahren Wachstumsrezession heraus und holt jetzt gerade erst auf. Es ist daher sehr unklar, ob es eine globale Rezession geben wird. Wir halten eine solche für recht unwahrscheinlich, erwarten vielmehr eine zeitlich versetzte Abfolge von Schwächen in den verschiedenen Regionen. An den Börsen wird aber das marktbestimmende Thema in den nächsten sechs Monaten sein, ob die USA in eine Rezession gehen oder nicht. Das bestimmt den Preis des Geldes - sprich die Zinsen - in der globalen Leitwährung, dem Dollar

Und was prognostizieren Sie?

Bisher waren wir zuversichtlich. Die modernen Volkswirtschaften sind von Natur aus resistent gegenüber Rezessionen. Viele Schwächen wie derzeit in der Industrie werden durch andere Bereiche, wie derzeit durch den Dienstleistungssektor, wieder aufgewogen. Kommt aber eine Finanzkrise oder ein Schock von aussen, dann kann ein wirklicher Einbruch passieren. Die aktuelle Situation ähnelt der Savings-and-Loan-Krise, einer US-Bankenkrise in den 1980er Jahren. Diese traf die kleineren Banken in den USA in der Breite und zog sich auch länger hin als die grosse Finanzkrise. Aber eben: es war eine regionale, US-basierte Krise und sie steckte das globale System nicht an. Trotzdem betrachten wir die Situation mit einer gewissen Besorgnis, da die US-Notenbank Fed den Bogen wohl wieder überspannt, was eine Kettenreaktion auslösen könnte. 

Notenbanker sind bekannt dafür, zu spät zu reagieren…

Ja, sie sind bekannt dafür, mit dem Rückspiegel zu fahren. Das geflügelte Wort war immer: 'Die Fed zieht die Schrauben an, bis es knallt.' Mit der Bankenkrise kann man argumentieren, dass es bereits geknallt hat. Der Markt rechnet mit einem weiteren Zinsschritt und in sechs Monaten mit ersten Zinssenkungen in den USA und hat daher die Politikfehler der Fed schon eingepreist. Ich glaube, dass die Fed bereits zu weit gegangen und das Fuder überladen ist.

Was bedeutet diese Ausgangslage für Anlegerinnen und Anleger, die momentan an der Seitenlinie die Geschehnisse beobachten?

Taktisch ist es nie ein schlechter Zeitpunkt für einen Kauf, wenn Pessimismus an den Märkten vorherrscht. Wenn alle nur noch blauen Himmel sehen, dürften Aktien im Durchschnitt 30 Prozent höher handeln. Zudem zahlt es sich langfristig einfach aus, dabei zu sein. Die häufige Frage nach dem besten Zeitpunkt für den Einstieg und Ausstieg widerspiegelt in gewisser Weise auch eine Casino-Mentalität, die schlussendlich nicht gewinnbringend ist. Aus ökonomischer Sicht kann man auch nicht erklären, warum Leute in das Casino gehen, da die erwartete Gewinnwahrscheinlichkeit 48,5 Prozent beträgt. Demgegenüber verdiente man in den letzten hundert Jahren durchschnittlich 7 bis 9 Prozent pro Jahr mit Aktien, wenn man investiert war und blieb.

Was ist Ihr praktischer Ratschlag?

Alle statistischen Erhebungen sagen, investiert zu sein lohnt sich und das Zuwarten nicht, weder taktisch noch strategisch. Da die menschliche Psyche verständlicherweise immer Angst hat, am absoluten Höchst zu kaufen, empfehle ich den Kunden jeweils das gestaffelte Investieren. Rein von den errechneten Erträgen über die kurze Frist hinaus verspricht ein ausgewogenes Portfolio nach der deutlichen Bewertungskorrektur die höchsten Renditen, die wir in den letzten zehn Jahren erwarten konnten. Es ist nicht der Zeitpunkt, um zu versuchen, das Tief zu treffen, sondern sich in der sehr pessimistischen und schwierigen Lage gegen die vorherrschende Marktmeinung zu positionieren.

Auf was sollten Anleger setzen? Substanzaktien (Value), Zykliker oder Wachstumswerte?

Wenn die Gesamtwirtschaft unterdurchschnittlich wächst, ist man bereit, eine Prämie für diejenigen Werte zu zahlen, die überdurchschnittliches Wachstum erzielen. Somit sind diese Wachstumswerte stark an das erwartete Zinsniveau gekoppelt, da hohe Zinsen ein hohes nominales Wachstum widerspiegeln und umgekehrt tiefe Zinsen ein tiefes nominales Wachstum. Am langen Ende wurde das Zinshoch in den USA letzten Oktober bei 4 Prozent erreicht. Der Zins-Rückgang seither führt dazu, dass die Wachstumswerte wieder beliebter werden. Technisch gesehen sind sie zudem überverkauft und es hat eine Bodenbildungen stattgefunden. 

Wachstumswerte haben sich aber teilweise bereits stark erholt. Wo sehen Sie langfristig Chancen?

Im Moment geht man in Qualität, in grosse Wachstumswerte, die nicht sehr spektakulär sind, aber sich auf lange Frist auszahlen. In den USA sind dies die grossen Technologiekonzerne wie Accenture, Alphabet und Microsoft. Oder auch American Tower und Linde, die sich von Deutschland zur Kotierung in den USA verabschiedet haben. Zu den grössten Wachstumswerten in Europa gehören Roche und Nestlé daneben die Luxusgüterindustrie mit LVMH oder im tiefermargigen Bereich L'Oréal und das Gesundheitswesen mit AstraZeneca. Das spannendste Pendant zu amerikanischen Wachstumswerten ist in Europa der Schweizer Mid-Cap-Index SMIM.

Zykliker bleiben uninteressant, da die Gewinnrevisionen noch nicht abgeschlossen sind?

Zykliker haben sich im ersten Quartal sehr wacker geschlagen. Das Szenario zeitlich verschobener regionaler Konjunkturschwäche gibt eben gerade keine breite Kaufgelegenheit für Zykliker her, wie sie in der Talsohle einer Rezession sich üblicherweise eröffnet. Umgekehrt erwarten wir auch keine breite Anpassung der Gewinne nach unten, wie sie bei Rezessionen im Umfang von 20 Prozent und mehr üblich sind. Das Sommerhalbjahr ist aber eh nicht die Zeit für zyklische Werte, da saisonal schwache Quartale anstehen. Die Einstiegsgelegenheit für Zykliker ist jeweils der September, wenn die Erwartungen deutlich zurückgekommen sind und sich keine Rezession abzeichnet.

Was ist der dominierende Megatrend der nächsten Jahre, den Anlegerinnen und Anleger auf dem Radar haben müssen?

Die Energiewende ist sicherlich das dominante Thema - vor allem in Europa. Man versucht nicht nur aus ökologischen, sondern zunehmend auch aus geopolitischen Überlegungen von den fossilen Energieträgern wegzukommen. Diese anstehenden Investitionen betreffen nicht nur die alternativen Energien, sondern vor allem die Energieinfrastruktur. Leider hat ABB das Stromübertragungsgeschäft an Hitachi verkauft. Ich musste mir die Augen reiben, als ich letzthin das umfassende Produktportfolio in Sachen Energiemanagement der Japaner sah, die wir zum Kauf empfehlen. Siemens, ABB, Schneider Electric, Eaton, Emerson und Honeywell sind ebenfalls gross in vielen Bereichen der Energieinfrastruktur. Und natürlich eigenen sich auch Versorger wie RWE oder SSE als Investment, wenn es um Energieinfrastruktur geht. 

Was sind Ihre Schweizer Aktienfavoriten für das restliche Jahr? 

Unter den drei grossen Titeln sehen wir bei Nestlé die grössten Chancen. Im Bereich Healthcare setzen wir auf Lonza und Tecan. Trotz der Bankenkrise bietet sich Anlegern Chancen bei Finanzwerte wie Partners Group, Swiss Life oder Helvetia. Wegen der Pandemie-Öffnung in China ist weiterhin auch ein Investment bei Richemont interessant. Im eher zyklischen Industriebereich setzen wir auf defensive Werte wie Georg Fischer. Das Unternehmen ist im Bereich Nachhaltigkeit stark engagiert. Auch Stadler Rail ist sehr konservativ bewertet. Wenn man sieht, wie das Geschäft läuft und den Megatrend Urbanisierung berücksichtigt, dann ist der Titel trotz der geopolitischen Komponente unterbewertet. Günstig ist auch Accelleron mit seinem Wartungsgeschäft. Technologie ist ja im Schweizer Markt schlecht vertreten, doch umso mehr sehen wir Chancen bei Logitech nach einer sehr schwierigen Phase. 

Bei welchen Aktien sehen Sie für Anlegerinnen und Anleger Gefahren?

Unklar ist derzeit, wie sich die höheren Zinsen und die Abkühlung der globalen Baukonjunktur auf Bauzulieferer wie Sika und Geberit auswirken und was die neue Normalität für Immobilienunternehmen heisst.  

Wie sehen sie die UBS nach dem Kauf der Credit Suisse?

Wir haben das Rating auf 'Hold' zurückgestuft, da eine solch grosse Übernahme ein grosser Brocken ist und viel Energie in der Organisation auf erhebliche Zeit hinaus bindet. Wir finden aber europäische Bankentitel interessant. Die Europäer machen mit zehn Jahren Verzögerung, was die US-Banken damals machten: De Investoren so lange mit hohen Ausschüttungen duschen, bis die Bewertungen der Bankaktien anziehen. Derzeit sind BNP Paribas, Nordea, Swedbank und Unicredit besonders interessant.

Dies, obwohl diese mehrheitlich im bisherigen Jahresverlauf trotz der Bankenkrise bereits ein starkes Kursplus aufweisen? 

Ja, nachdem sie zum Jahresende aus den Portfolios gespült worden sind. Man hat ja ein spezielles Brauchtum in der Finanzindustrie. Niemand will mit gewissen Titeln in die Jahresendgespräche. Daher spülen alle vor dem Jahresende Verlierer, wie zuletzt Banken und nicht profitable Tech-Werte aus dem Portfolio. Daher gab es im Januar eine solche starke Gegenbewegung. Niemand wollte Ende Jahr Diskussionen haben über den Ark Technology Funds oder ein Investment in eine europäische Grossbank. 

Die Bankenkrise ist kein Thema für Europa?

Der jüngste Angriff auf die Deutsche Bank war nicht erfolgreich und es ist Ruhe eingekehrt. Man kann dies so werten, dass sich das europäische Bankensystem regulatorisch an einem besseren Ort befindet als die kleineren US-Institute. 

Der Genussschein von Roche ist dieses Jahr der zweitschlechteste Wert im SMI. Wie ordnen Sie die Situation ein?

In der Vergangenheit war es jeweils der Fall, dass Roche seine Qualitäten als Wachstumswert immer wieder unter Beweis stellen konnte. Die Bewertung ist zur Zeit extrem günstig und deshalb empfehlen wir den Titel geduldigen und dividendenorientierten Anlegern zum Kauf. Der Pharmakonzern hatte ungewöhnlich grosse Enttäuschungen in der späten Phase der Produktentwicklung zu verkraften. Dies und der Verkauf der Familie hat das Anlegervertrauen auf die Probe gestellt. Roche verzinst das Kapital mit beinahe 4 Prozent, doch der Auslöser für eine höhere Bewertung fehlt.

Ist aus Ihrer Sicht Novartis interessanter und dynamischer als Roche?

Nein. Es gibt ein paar extreme Wachstumsgeschichten wie die Adipositas Behandlung bei Eli Lilly oder Novo Nordisk im globalen Pharmageschäft, aber unsere grossen Konzerne sind in diesem Segment kaum vertreten. Auch die Erfolgsmeldung im Onkologie-Bereich von letzter Woche, als der Novartis-Titel stark anzog, stimmt nicht zwingend positiv. Denn diese starke Reaktion für einen Titel solcher Grösse zeigt, wie skeptisch der Markt gegenüber Novartis immer noch eingestellt ist. Es erscheint, als wären viele Leute 'long Eli Lilly und short Novartis' gewesen. Es sind keine Auslöser in Sicht, warum dieser Titel darüber hinaus in Bewegung kommen sollte.

Dürfte die Abspaltung von Sandoz bei Novartis nicht Mehrwert generieren?

Wir sind skeptisch, ob dem so sein wird. Wenn man den vermeintlichen 'Ballast' abspalten will, bringt dies nicht automatisch Mehrwert. Die Überflieger der letzten 20 Jahre - zum Beispiel Givaudan oder Syngenta - sind alles Abspaltungen von der Pharma. Man wollte die schlecht wachsenden Bereiche, die Kapital binden, loswerden und das Pharmageschäft scheinen lassen. Wenn man letzteres aber scheinen lassen will, muss man Produkte in der Pipeline haben, die extrem ziehen. 

Christian Gattiker-Ericsson ist Chefstratege und globaler Leiter Research bei der Bank Julius Bär. Zuvor wirkte er als globaler Aktienstratege, Aktienanalyst und Ökonom bei verschiedenen Schweizer Banken.

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